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Generative KI und ein Mass Customized Action Learning

Generative KI und ein Mass Customized Action Learning

Neue Technologien wie die generative Künstliche Intelligenz (KI) und das Spatial Computing verändern die Arbeitswelt. Das deutsche Bildungs- und Weiterbildungssystem ist auf diesen Wandel nicht gut vorbereitet. Eine verbindende Strategie 5.0 strebt an, dass Organisationen diese Defizite gemeinsam mit innovativen Bildungsanbietern und der Politik überwinden.

 

In diesem Blogpost erläutere ich den möglichen Beitrag eines Mass Customized Action Learning zur Bewältigung des Wandels der Arbeitswelt.

 

Chancen und Risiken für Arbeitskräfte aufgrund der generativen KI

Wohl kaum ein Technologiethema hat in den letzten Jahren einen ähnlichen Hype ausgelöst wie die generative KI mit großen Sprachmodellen z.B. Generative Pre-Trained Transformer (GPT). Microsoft kommt das Verdienst zu, die Bedeutung dieses Trends frühzeitig erkannt, beträchtliche Summen in den GPT-Entwickler OpenAI investiert und damit begonnen zu haben, die Generative Artificial Intelligence (GenAI) in sein vorhandenes Produktprogramm zu integrieren. Das Gamechanger-Potenzial dieser Entwicklung erscheint noch bedeutender als wir in unserem 2020 erschienenen Buch geahnt haben.1 Wie sich die Spielregeln des Wettbewerbs zwischen Unternehmen und Wirtschaftsräumen verändern, ist heute noch nicht abzusehen. Von entscheidender Bedeutung wird dabei sein, die richtige Balance zwischen Innovation, Regulierung und der Befähigung der Mitarbeitenden zu finden.2 Den Experten für generative KI bietet der Arbeitsmarkt schon heute erhebliche Chancen. So könnten Autobauer die eigene Softwareentwicklung um bis zu 55 Prozent beschleunigen und gleichzeitig die Kosten um bis zu 95 Prozent senken.3

Nach einer internationalen Umfrage der Boston Consulting Group (BCG) gehen aber 40 Prozent der 12800 befragten Arbeitnehmer und Führungskräfte in 18 Ländern davon aus, dass ihr Tätigkeitsfeld künftig aufgrund von KI wahrscheinlich nicht mehr existieren wird.4 Experten prognostizieren, der Arbeitsmarkt befinde sich am Beginn eines Veränderungsprozesses, bei dem sich drei Entwicklungen überlagern:

  1. Durch KI entfällt eine Reihe von Jobs. Daher stellt sich die Frage, welche Arbeiten die dort Beschäftigten in der Zukunft übernehmen sollen.
  2. Es entsteht eine Vielzahl neuer Formen der Zusammenarbeit zwischen Menschen und Künstlicher Intelligenz. Dies betrifft die Mehrzahl der Branchen und traditionellen Funktionen.
  3. Es bilden sich völlig neue Tätigkeitsfelder heraus. Für alle drei Entwicklungen gilt es, geeignete Formen der Aus- und Weiterbildung zur finden.

Diese Entwicklungen haben ein großes Potenzial für sozialen Sprengstoff. Ein technologischer Umbruch, der tiefgreifender sein könnte als die industrielle Revolution, erscheint möglich. Daher wäre es wichtig, dass sich das deutsche Aus- und Weiterbildungssystem diesem Wandel stellt und praktikable Lösungen entwickelt.

Bevor ich hierauf näher eingehe, stellt sich die Frage, was die Kennzeichen der Strategie 5.0 von Microsoft sind.

 

Microsofts Strategie 5.0

Als Strategie 5.0 bezeichnen wir die fünfte Entwicklungsstufe eines konnektiven strategischen Managements.5 Microsoft ist einer der weltweiten Vorreiter dieses bislang letzten Evolutionsschrittes, der die vorherigen Stufen verbindet. In der folgenden Abbildung sind Gründe für den Erfolg von Microsoft zusammengefasst.6

 

Lernprozess Innovationsstrategie

 

Der erste Grund liegt in der Ausbildung, Persönlichkeit und dem Mindset des indischstämmigen CEO Satya Nadella, einer Führungskraft, die deutlich weniger narzisstisch geprägt ist als sein Vorgänger.7 Unmittelbar nach seinem Amtsantritt hat Nadella einen Turnaround mit harten Einschnitten begonnen. Entscheidend ist dabei seine Bereitschaft gewesen, eigene Einstellungen zu hinterfragen und neue Wege zu gehen (Growth Mindset).8

Hinzu kommt als weiterer wichtiger Grund die Verbesserung der Beziehungen zu Partnern innerhalb des Business Ecosystems von Microsoft verbunden mit Investitionen in das Cloud-Geschäft. Typisch für seine erfolgreiche Strategie 5.0 ist ein neuer Kurs gegenüber Stakeholdern insbesondere aus den Bereichen Politik und Regulierung gewesen. Heute sucht Microsoft mit Regulierern eher den handlungsorientierten Dialog.9

Parallel dazu hat das Unternehmen seine eigene Forschung beim Thema KI massiv ausgebaut. Der Durchbruch bei großen Sprachmodellen ist dann aber aus der Zusammenarbeit mit dem anfangs eher unbekannten Start-up OpenAI entstanden. Gegenwärtig integriert Microsoft die Technologien von OpenAI in die eigenen Produkte und bindet so seine Kunden (Vendor Lock-in). Die Vision ist, der führende Anbieter von digitalen persönlichen Assistenten zu werden. Dieses Ziel verfolgt Microsoft mit einer freundlichen Fassade und einem gleichzeitigen Ausbau seiner Marktmacht.

Neben der generativen KI gibt es mit dem Spatial (räumlichen) Computing eine weitere neue Technologie, die gravierende Auswirkungen auf den Wettbewerb und den Arbeitsmarkt haben könnte.

 

Neue Formen der Interaktion mit dem Spatial Computing

Der bereits 2003 von dem MIT-Forscher Simon Greenworld geprägte Begriff Spatial Computing ist durch die Vorstellung der innovativen Datenbrille Apple Vision Pro bekannt geworden. Der CEO von Apple Tim Cook verfolgt das Ziel, mit diesem Mixed Reality Headset ein neues Zeitalter der Interaktion von digitaler Sphäre und realer Umgebung einzuläuten. Experten glauben, dass der heute noch von der Meta-Tochter Oculus dominierte Markt für XR-Brillen bis 2026 von 41,2 auf 100,8 Milliarden US-Dollar wachsen wird.10 An diesem Wachstum möchte Apple partizipieren.

Die Erfolgsgeschichte des Unternehmens basiert auf seinem einzigartigen Stakeholder-Ökosystem mit dem iPhone als Ankerprodukt eines Schwungrades (Flywheel), das aus den Komponenten User, App, Entwickler und eigenem Betriebssystem besteht. Auf diese Weise ist auch Apple zu einem der Vorreiter der fünften Entwicklungsstufe eines verbindenden strategischen Managements geworden.11 Diese Strategie 5.0 möchte Cook nun mit der ersten neuen Plattform in seiner Amtszeit fortschreiben.

Das ist aber nicht ohne Risiken. Im Unterschied zu den früheren Erfolgsprodukten haben sich für neuartige Datenbrillen noch keine großvolumigen Anwendungsfelder herausgebildet. Apple setzt darauf, die Sensor-Ausstattung des iPhones mit Lidar-Lasertechnologie und über 14000 Apps auf sein Mixed-Reality-Headset zu übertragen. Damit wäre das Unternehmen auf eine Zeit vorbereitet, in der Datenbrillen das Smartphone als wichtigstes persönliches Gerät ergänzen.12

Parallel dazu arbeitet Apple an einer Gegenstrategie zu generativen KI-Lösungen in der Cloud, die Microsoft gemeinsam mit dem GPT-Entwickler OpenAI vorantreibt. Dies soll mit Hilfe von Chips gelingen, die nach dem Prinzip der Model Compression arbeiten, um die Algorithmen so einzudampfen, dass sie in die Apple-Produkte passen. Die nächsten Jahre werden zeigen, wie der Wettbewerb zwischen den Digitalgiganten und ihren Stakeholder-Ökosystemen um die beste verbindende Strategie 5.0 weitergeht.

Eine spannende Frage ist, welche Rolle dabei SAP, das wertvollste deutsche Unternehmen, spielen wird. Der SAP-Chef Christian Klein braucht eine klare Roadmap für die Integration von generativer KI in die Enterprise Resource Planning (ERP-) und Customer Relationship Management (CRM-) Systeme der Zukunft. Eine wichtige Rolle in seiner Strategie spielen Kooperationen und das 2021 übernommene Business Process Intelligence (BPU-) Unternehmen Signavio.13

Insgesamt stellt sich für europäische Unternehmen die Aufgabe, die zunehmende Abhängigkeit von großen Tech-Konzernen zu verringern. Die Suche nach Lösungen sollte mit einer kritischen Ursachenanalyse der Probleme beginnen.

 

Geschwächte strategische Resilienz von Organisationen

Eine solche Ursachenanalyse führt zu der These, dass sich in den letzten Jahrzehnten Defizite bei den Entwicklungsstufen des strategischen Managements und der Managementausbildung wechselseitig verstärkt haben. Diese Fehlentwicklung besteht seit der ersten Strategiestufe mit ihrem Fokus auf Kostensenkungen und einem Outsourcing wichtiger Funktionen. Dies hat zu einem Rückgang der Lernfähigkeit von Organisationen aufgrund der zunehmenden Abhängigkeit von Management- und Politikberatungen geführt.14

Der zweite Defizitbereich ist, dass die Managementausbildung über einen langen Zeitraum insbesondere an Universitäten zu wenig interdisziplinär und praxisorientiert gewesen ist. Die meisten deutschen Hochschulen haben auch die Führungskräfte- und Personalentwicklung bei neuen Managementthemen vernachlässigt. Das Ergebnis dieses Wechselspiels ist eine geschwächte strategische Resilienz (Widerstandsfähigkeit) von Organisationen bei der Krisenbewältigung und Chancennutzung.

 

Lernprozess Innovationsstrategie

 

Anschauungsmaterial hierfür liefern die Schwierigkeiten von etablierten Unternehmen und öffentlichen Verwaltungen bei der Gestaltung des digitalen Wandels. Obwohl seit langem bekannt ist, dass erfolgreiche Tech-Unternehmen dabei auf eine zentrale Plattformorganisation mit agilen Teams und ein Stakeholder-Ökosystem setzen, gelingt es den meisten traditionellen Unternehmen nicht, dieses innovative Organisationskonzept an ihre spezifische Situation anzupassen.15 Der große Defizitbereich ist dabei eine zeitgemäße Governance zur Verbindung der Organisationsbausteine.

Eine der Ursachen hierfür ist, dass viele Betriebswirtschaftsstudenten nur begrenzte Programmierfähigkeiten erwerben, was die Zusammenarbeit mit Ingenieuren und Informatikern beim agilen Projektmanagement erschwert. Das Ergebnis sind Defizite von Unternehmen bei der Digitalisierung ihrer Geschäftsprozesse. Diese komplexe Aufgabe erfordert ein Zusammenspiel der Themen

  • Geschäftsmodell-Innovation
  • Wandel der Organisation von funktional zu prozessorientiert (Reengineering)
  • Wandel der IT-Architektur
  • KI-basierte Softwareunterstützung von Prozessen (Business Process Intelligence)
  • Neugestaltung des Datenmanagements sowie
  • organisatorisches und individuelles Lernen.

Auf eine Bewältigung dieser interdisziplinären Herausforderung sind die meisten traditionellen Studiengänge nicht ausgerichtet. Analysen in Unternehmen zeigen, dass der wichtigste Faktor, der die Anwendung von Künstlicher Intelligenz hemmt, das fehlende Know-how der Fachkräfte ist.

Ein möglicher Ausweg aus diesem Dilemma wäre die Kooperation von Unternehmen und Verwaltungen mit innovativen Bildungsanbietern. Im Folgenden erläutern wir zunächst die Schritte zur organisationsspezifischen Weiterbildung im Rahmen einer solchen Zusammenarbeit. Ein aktuelles Beispiel aus der Hochschullehre dient hierbei als Einstieg.

 

Schritte bei einer organisationsspezifischen Weiterbildung

Eine Prüfungsleistung im Fach Innovationsmanagement für Studierende der zur Klett Gruppe gehörenden CBS International Business School besteht in diesem Jahr in der Gestaltung von Lösungen für die Interaktion von Menschen mit generativer KI. Die Studierenden haben sehr schnell die Relevanz des Themas für ihre zukünftige Entwicklung erkannt und eine Vielzahl kreativer Ansätze erarbeitet.

Diese Aufgabenstellung lässt sich von der Ausbildung Studierender auf eine spezifische und gleichzeitig skalierbare Weiterbildung in Organisationen übertragen.16 Ein entsprechendes Konzept besteht aus den in der Abbildung dargestellten vier Schritten. Dieses Konzept ist auch bei anderen neuen Managementthemen anwendbar.

 

Lernprozess Innovationsstrategie

 

Der erste Schritt ist die Entwicklung von relevanten Modulen für die Führungskräfte- und Personalentwicklung bei neuen Managementthemen. Auf diese Weise entsteht ein zusammensetzbarer Modulbaukasten, bei dem einzelne Microlearnings kombinierbar sind. Die Module eignen sich für interdisziplinäre Zielgruppen z.B. im Rahmen eines agilen Projektmanagements. Eine hybride Lehre verbindet Präsenz- und Online-Formate.

Hieran schließt sich im Schritt zwei eine Analyse der Ausgangssituation und der spezifischen Herausforderungen der jeweiligen Organisation an. Diese Arbeit beginnt mit der Bildung eines gemeinsamen Projektteams. Erfahrene Managementtrainer unterstützen die Klientenorganisation bei der Situationsanalyse. Auf dieser Grundlage entwickelt das Team ein maßgeschneidertes Konzept für ein handlungsorientiertes Lernen (Action Learning). Zielsetzung des Action Learning ist die Verbindung einer konkreten Problemlösung mit Lernprozessen der beteiligten Akteure.

Die Anpassung (Customization) der Lerninhalte und des Vorgehens an die spezifischen Herausforderungen findet in Schritt drei statt. Diese Arbeit beginnt mit einer Beschreibung der relevanten Zielgruppen der Organisation. Die Kernaufgabe in diesem Schritt ist eine Integration spezifischer Lerninhalte. Die Ableitung von Lernzielen und Ergebnissen kann mit Hilfe der Objectives and Key Results (OKR-) Methode erfolgen.

Den Abschluss bilden in Schritt vier die gemeinsame Durchführung von Action Learning-Programmen, eine Erfolgskontrolle und die Planung der nächsten Schritte. Eine wichtige Rolle spielt hierbei die Verbindung von Lern- und Handlungseinheiten. Innovative Lerntechnologien unterstützen eine erfolgsabhängige Nachbereitung. So kann die Organisation ihre Action-Learning-Reise fortsetzen.

 

Corporate Venture Management von Bildungsanbietern und EdTech Start-ups

Der Verband der Hochschullehrerinnen und Hochschullehrer für Betriebswirtschaftslehre (VHB) zeichnet in einer 2021 erschienenen Buchpublikation ein sehr positives Bild der BWL in Deutschland.17 Dabei wird aber ein wichtiger Aspekt ausgeblendet: Die Managementweiterbildung ist reif für eine Disruption durch stärker interdisziplinäre und praxisorientierte Bildungsanbieter, die zwischen der Informatik sowie den Ingenieur- und Wirtschaftswissenschaften Brücken schlagen.18 Kompetenzdefizite von Organisationen z.B. bei den Themen Digitalisierung und Nachhaltigkeit nutzen gegenwärtig Management- und Politikberatungen, deren Dienstleitungen allerdings nicht primär auf die Personalentwicklung ausgerichtet sind. Die entstandene Lücke könnte ein Corporate Venture Management von Bildungsanbietern und Educational Technology (EdTech) Start-ups schließen. Ein Treiber dieser Entwicklung ist der Megatrend Konnektivität mit seiner technischen und seiner Management-Dimension.19

Beim Corporate Venture Management beteiligen sich etablierte Unternehmen an Start-ups, um die Vorteile von Erfahrung, Kapitalkraft und Innovationsfähigkeit zu verbinden.20 Dieser Ansatz ist in Deutschland mit erheblicher Verzögerung angekommen, erfreut sich inzwischen aber wachsender Beliebtheit.

Der größte private Bildungsanbieter in Deutschland ist die Klett Gruppe. Zur Klett Gruppe gehören auch Hochschulen, für die ich seit über einem Jahrzehnt als externer Dozent tätig bin. Diese sind mit praxisorientierten Bachelor- und Masterprogrammen sehr erfolgreich. Deutlich schwerer tun sich deutsche Bildungsanbieter mit den Märkten für eine Customized Management Education und Massive Open Online Courses (MOOC). Eine erfolgversprechende Strategie könnten Bildungsanbieter gemeinsam mit Managementtrainern und EdTech Start-ups realisieren. In eine solche Partnerschaft bringen z.B. Anbieter von dualen Studiengängen ihr Dozentennetzwerk mit vorhandenen Lehrinhalten und gute Geschäftsbeziehungen zu einer Vielzahl häufig mittelständischer Arbeitgeber der dual Studierenden ein. Bei diesen dualen Studiengängen ist vom ersten Tag an eine enge Verbindung zwischen Theorie und Praxis gewährleistet.

So vermitteln wir z.B. den Wirtschaftsingenieur-Studenten der CBS gleich zu Beginn ihrer Ausbildung ein ganzheitliches Verständnis der Funktionsweise von innovativen Geschäftsmodellen und erfolgreichen agilen Organisationen. Anhand von praktischen Beispielen erläutern wir verschiedene Laufbahnmodelle wie die Fachlaufbahn und die Führungslaufbahn. Eine wichtige Ergänzung hierzu ist das Testen der Talentleitmotive der Studierenden, die so eine Orientierung erhalten, welche persönlichen Spezialisierungen für sie passend sind.21 Angesichts des Fachkräftemangels ist dieses Angebot der Hochschule für die Arbeitgeber der dualen Studenten eine gute Differenzierungsmöglichkeit im Personalmarketing.

Der Fachkräftemangel ist auch ein wichtiger Treiber der Entwicklung des weltweiten EdTech-Marktes, für den Experten bis 2030 ein jährliches Wachstum von 13,6 Prozent auf 348,4 Milliarden US-Dollar prognostizieren. Dieser Markt ist stark durch Start-ups geprägt. So haben Venture Capital-Unternehmen 2020 allein in den USA 1,78 Milliarden US-Dollar in junge, auf Educational Technology spezialisierte Unternehmen investiert.

Universitäten sollten die skizzierten Disruptionsherausforderungen des Bildungsmarktes als Chance zur eigenen Weiterentwicklung begreifen. Innovative Technologien wie die generative KI und das Spatial Computing sind ein Anlass, über eine grundlegende Neuausrichtung der Aus- und Weiterbildung von Informatikern, Ingenieuren und Betriebswirten nachzudenken. Die verbindende fünfte Entwicklungsstufe des strategischen Managements liefert hierfür den passenden Rahmen. Bei einer solchen Neuausrichtung ist die jeweilige strategische Ausgangssituation der Universität in den Segmenten Customized Management Education und MOOC-Plattformen zu berücksichtigen.

Eine Möglichkeit zur Weiterentwicklung wäre z.B. die Etablierung von Lehrunternehmen in der Region, mit denen Universitäten kooperieren. In der Medizin spielen Lehrkrankenhäuser eine wichtige Rolle bei der Aus- und Weiterbildung von Ärzten. Ein ähnliches Konzept könnte für die Managementlehre entstehen. Dabei ergänzen erfahrene Praktiker aus Unternehmen und Verwaltungen die meist sehr theoretisch orientierten Universitätsprofessoren. Ein Teil der Aus- und Weiterbildung würde von den Universitäten in die Lehrunternehmen verlagert. Das Ziel dieses Ansatzes wäre, eine Win-Win-Situation für beide Seiten zu schaffen.

Im Folgenden skizzieren wir kurz die klassische Customized Management Education und die rasante Entwicklung von Plattformen für Massive Open Online Courses (MOOC). Hieraus leiten wir die Vorteile eines Mass Customized Action Learning (MCAL) in der Managementaus- und -weiterbildung ab.

 

Entwicklung zu einem Mass Customized Action Learning

Eine bedeutende Rolle bei der organisationsspezifischen Weiterbildung von Führungskräften großer Unternehmen spielen internationale Business Schools. An der Spitze des Ranking der Financial Times für 2023 im Segment „Executive Education Custom“ liegt Duke Corporate Education gefolgt von Insead, HEC Paris und IESE.22 Immerhin hat es die Berliner ESMT auf Rang fünf geschafft. Unter den besten 75 Anbietern weltweit finden sich drei weitere Business Schools aus Deutschland. Allerdings machen die begrenzte Anzahl von Kursteilnehmern und die Preispolitik der Hochschulen eine breit angelegte Weiterbildung von Mitarbeitern z.B. beim Thema generative KI nahezu unmöglich. Eine Alternative hierzu sind MOOC-Plattformen.

Im Oktober 2011 haben Stanford-Forscher drei kostenlose Onlinekurse veröffentlicht. Jeder dieser Kurse erreichte mehr als 100000 Lernende und die Medien prägten den Begriff MOOC. Inzwischen bieten über 1200 Hochschulen weltweit öffentlich Onlinekurse an. Parallel dazu sind global tätige MOOC-Plattformen wie Coursera, EdX und FutureLearn sowie eine Vielzahl nationaler Anbieter von MOOC-Plattformen entstanden. Bis 2021 haben weltweit mehr als 220 Millionen Lernende mindestens einen MOOC belegt.23

Der Nachteil dieser relativ kostengünstigen Alternative zu traditionellen Business Schools war in der Vergangenheit, dass keine Anpassung an die spezifischen Bedürfnisse eines Einzelnen oder einer Organisation erfolgt ist. Das ändert sich gerade. Eine Kombination der Vorteile der beiden Lernwelten des Managements erscheint mit Hilfe des Mass Customized Action Learning erreichbar. Diese hybride Lernform verknüpft Elemente des Präsenz- und des Onlinelernens.

 

Lernprozess Innovationsstrategie

 

In der Industrie verbindet das Anfang der 1990er Jahre von Joseph Pine entwickelte Konzept der Mass Customization die Vorteile der Massenproduktion mit kundenindividuellen Produkten und Dienstleistungen.24 Wichtige Impulse für eine Weiterentwicklung der kundenindividuellen Massenproduktion sind von dem Aachener BWL-Professor und Mitgründer von Competivation Frank Piller ausgegangen.25 Dieses Konzept ist auf die Managementaus- und -weiterbildung übertragbar. Hier überwindet es die Nachteile der Customized Management Education und der MOOC-Plattformen. Ein Anwendungsfokus könnte bei neuen Managementthemen wie der generativen KI liegen, bei der ein Up- und Re-Skilling einer großen Anzahl von Mitarbeitenden in Organisationen erforderlich ist, die unterschiedliche individuelle Lernbedürfnisse haben. Koordinatoren eines solchen Mass Customized Action Learning (MCAL) für das Management sind die Organisationen selbst gemeinsam mit innovativen Bildungsanbietern, die zunehmend generative KI einsetzen. Eine entscheidende Rolle spielt dabei das handlungsorientierte Lernen aller Akteure, die sich mit ihren Kompetenzen in die Prozesse einbringen. Auf diese Weise erlebt das Action Learning eine Weiterentwicklung und Anpassung an aktuelle Herausforderungen.26

Ein Beispiel für die Anwendung von generativer KI durch MOOC-Plattformen liefert die in den USA ansässige Khan Academy, die mit ihren Khamingo-Programmen auf der Basis von ChatGPT jedem Lernenden einen persönlichen Tutor und jedem Lehrer einen persönlichen Assistenten anbietet. In Singapur hat das Bildungsministerium die sich hieraus ergebenden Chancen erkannt und stellt Pädagogen die erforderlichen Ressourcen zur Verfügung.27 Dies zeigt das Potenzial eines Mass Customized Action Learning für Zielgruppen von der Grundschule bis zu Führungskräften.

Unsere Erfahrungen mit der Anwendung dieses Konzepts bei einer Reihe neuer Managementthemen sind bislang sehr positiv. Neben dem Erfahrungsaustausch mit weiteren Klientenorganisationen und ihren entstehenden Strategie 5.0-Laboren28 sind wir am Ausbau unseres Innovationsökosystems zu diesem spannenden Thema interessiert. Ein Vorbild ist die von Max Viessmann initiierte Netzwerk-Plattform Maschinenraum mit Sitz in Berlin, wo Familienunternehmen, Start-ups und deutsche Risikokapitalgesellschaften zusammenarbeiten.

 

Generative KI als Anwendungsfeld und Ermöglicher neuer Lernformen

Im Folgenden fassen wir Gründe zusammen, warum das Mass Customized Action Learning für die Weiterbildung von Personen, Teams und großen Gruppen gut geeignet erscheint. Die generative KI ist dabei sowohl Anwendungsfeld als auch Ermöglicher. Diese Begründung sollte auch Zweifler überzeugen, die gemeinsamen Anstrengungen zu erhöhen.

Ein wichtiger Aspekt ist, dass die hohe Dynamik der generativen KI eine laufende Weiterentwicklung der Lerninhalte erforderlich macht. Der notwendige Austausch mit führenden Wissenschaftlern, Politikern und Medien ist von einem einzelnen Managementtrainer kaum zu leisten. Daher wäre es wirtschaftlich sinnvoll, dass die Lehrenden ihre Lerninhalte gemeinsam mit persönlichen GenAI-basierten Assistenten aktualisieren.

Der weltweit große Bedarf an Aus- und Weiterbildung zum Thema generative KI rechtfertigt Investitionen von Bildungsanbietern, wenn deren Geschäftsmodelle ein Erfolgspotenzial haben. Unter den Anbietern wird sich der Wettbewerb verschärfen. Es bleibt abzuwarten, welche Kooperationsmodelle sich dabei durchsetzen.

Das Nutzenversprechen der Mass Customization gegenüber One size fits all-Ansätzen ist, dass es wirtschaftlich gelingt, die Lerninhalte und das Vorgehen sowohl auf der individuellen Ebene der Lernenden als auch auf der Organisationsebene mit Hilfe von GenAI-basierten Tutoren an die spezifischen Bedingungen der Kunden anzupassen. Ein Ermöglicher dabei sind innovative Lerntechnologien. Dies spricht für die Zusammenarbeit von Bildungsanbietern mit EdTech Start-ups und KI-Unternehmen.

Außerdem eignet sich das Thema gut für eine Verbindung von Lernen und Handeln. Dieses Potenzial schöpft das Action Learning aus, bei dem Lehrende und Lernende ihre Kompetenzen einbringen. Daher sollte auch die Weiterbildung der Managementtrainer eine hohe Priorität haben.

Auch die Lehrenden erweitern mit jedem Projekt ihre Erfahrungen. Deshalb ist ein großes Netzwerk an qualifizierten Managementtrainern für den Bildungsanbieter ein wichtiger Wettbewerbsvorteil.

Natürlich haben auch die internationalen Managementberatungen die Chancen erkannt, die der entstehende Markt für sie eröffnet. Eine bessere Befähigung von Organisationen und Mitarbeitenden verringert jedoch die Abhängigkeit von Consultants und erhöht die eigene Resilienz. Dies spricht dafür, stärker auf neue Formen der Weiterbildung zu setzen.

 

Erfinderland auf der Verliererstraße?

Es ist relativ wenig bekannt, dass wichtige theoretische Grundlagen der generativen KI bereits in den 1990er Jahren von dem deutschen Informatik-Professor Jürgen Schmidthuber und seinem Team an der TU München gelegt worden sind. Als derjenige, der das Rennen um Bildgeneratoren schon vor OpenAI gestartet hat, gilt Professor Björn Ommer, der an der Ludwig-Maximilians-Universität München forscht und den Bildgenerator Stable Diffusion entwickelt hat. Hieraus ist das bei Open-Source-KI führende Start-up StabilityAI entstanden, das bei der letzten Finanzierungsrunde mit einer Milliarde Dollar bewertet worden ist.29 Wie auch in anderen Technologiefeldern kommen wichtige Erfinder im Bereich der generativen KI also aus Deutschland.

Umso bedauerlicher ist das bereits in unserem Buch zum Thema KI behandelte Versagen der deutschen Politik.30 Zwar hat 2018 die damalige Bundesregierung Ansätze zu einer nationalen KI-Strategie formuliert, die 2020 fortgeschrieben worden ist. Die Opposition wirft der Ampel-Koalition vor, das Thema generative KI verschlafen zu haben. Jörg Bienert vom KI-Bundesverband kritisiert die fehlende Koordination und fordert eine abgestimmte Position am besten ausgehend vom Kanzleramt. Das Bundesforschungsministerium hat inzwischen einen Aktionsplan vorgelegt, den Experten als zu schwammig und zu wenig umsetzungsorientiert kritisieren. Im Unterscheid zu dem nicht erfolgversprechenden Auftreten der deutschen Politik positioniert der britische Premierminister Rishi Sunak sein Land als Alternative zu den als zu drakonisch empfundenen KI-Regeln der EU und dem Laissez-faire-Verhalten der USA.31

Eine Möglichkeit für Deutschland und die EU, diese Verliererstraße zu verlassen, wäre die verbesserte Zusammenarbeit von Wissenschaft, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft im Rahmen eines verbindenden innovations-, wirtschafts- und bildungspolitischen Narrativs.32 Leider ist eine solche KI-Strategie 5.0 der Politik gegenwärtig nicht einmal in Ansätzen erkennbar.

 

Unternehmen, die dabei sind aufzuholen

Trotz der Defizite der Politik gibt es auch in Deutschland beim Thema generative KI Unternehmen, die dabei sind aufzuholen. Hierzu gehört z.B. Bosch, wo man gemeinsam mit dem Heidelberger Start-up Aleph Alpha an einem eigenen Sprachmodell arbeitet, das mit Unternehmensdaten gefüttert wird. Die bei Bosch verantwortliche Geschäftsführerin Tanja Rückert betrachtet die KI als Schlüsseltechnologie und Innovationsbooster.

Um das Vertrauen in generative KI zu stärken, hat Bosch konzernintern das Start-up AI-Shield initiiert. Dessen Schutzschild analysiert die Benutzereingaben und sorgt dafür, dass Unternehmensrichtlinien eingehalten werden.

Eine zentrale Rolle spielt dabei die Weiterbildung in großem Maßstab. So hat Bosch bereits 26500 Mitarbeiter in KI geschult.33 Auch andere Unternehmen starten gegenwärtig eine Weiterbildungsoffensive. Hierbei setzt Vodafone auf individualisierte Angebote, die eine neue Lernplattform vorschlägt.34 Ansätze wie diese nähren die Hoffnung, dass einige Unternehmen in Deutschland eben nicht auf der Verliererstraße sind, sondern angefangen haben, das Anwendungspotenzial der generativen KI auszuschöpfen.

 

Fazit

  • Durch die generative KI verändert sich der Arbeitsmarkt grundlegend. Dies erfordert geeignete Formen der Aus- und Weiterbildung.
  • Ein Vorreiter sowohl bei der fünften Entwicklungsstufe des strategischen Managements (Strategie 5.0) als auch beim Thema generative KI ist Microsoft.
  • Der Strategie 5.0-Vorreiter Apple plant, mit seinem neuen Mixed Reality Headset das Smartphone als wichtigstes persönliches Gerät zu ergänzen. Zwischen den großen Digitalunternehmen verschärft sich der Wettbewerb.
  • Diese Entwicklungen treffen in Deutschland auf Organisationen, deren strategische Resilienz geschwächt ist. Hierzu haben Defizite in der Managementaus- und -weiterbildung beigetragen.
  • Ein Lösungsansatz ist die verbesserte Customized Management Education. Zu diesem Ansatz haben wir ein bewährtes Vorgehenskonzept beschrieben.
  • Eine wichtige Rolle kann dabei die Zusammenarbeit von Bildungsanbietern mit Managementtrainern und EdTech Start-ups spielen.
  • Ein Mass Customized Action Learning wird durch generative KI ermöglicht, die gleichzeitig ein Anwendungsfeld für die neue Lernform ist.
  • Deutschland braucht dringend eine grundlegende überarbeitete KI-Strategie, die die Politikfelder Innovation, Wirtschaft und Bildung verbindet.
  • Unternehmen die aufholen zeigen, wie notwendig beim Thema KI eine Weiterbildungsoffensive ist.

 

Literatur

[1] Kaufmann, T., Servatius, H.G.: Das Internet der Dinge und Künstliche Intelligenz als Game Changer – Wege zu einem Management 4.0 und einer digitalen Architektur, Wiesbaden 2020

[2] Anger, H. et al.: Unternehmer fordern rasche Regulierung. In: Handelsblatt, 13. Juni 2023, S. 8-9

[3] Hubik, F., Tyborski, R.: KI könnte Software-Dilemma lösen. In: Handelsblatt, 12. Juni 2023, S. 20

[4] Klöckner, J., Specht, I.: Die Angst der Deutschen vor KI. In: Handelsblatt, 7. Juni 2023, S. 8-9

[5] Servatius, H.G.: Strategisch führen mit kontextueller und beziehungsorientierter Intelligenz. In: Competivation Blog, 14.03.2023

[6] Kerkmann, C., Scheuer, S.: Alles eine Frage der Einstellung. In: Handelsblatt, 14./15./16. Juli, S. 42-49

[7] Kets de Vries, M.: The Leader on the Couch – A Clinical Approach to Changing People and Organizations, Chichester 2006

[8] Dweck, C.: Mindset – The New Psychology of Success, New York 2006

[9] Hemmati, M.: Multi-Stakeholder Processes for Governance and Sustainability – Beyond Deadlock and Conflict, London 2002

[10] Scheuer, S.: Apples nächste große Wette. In: Handelsblatt, 7. Juni 2023, S. 24-25

[11] Servatius, H.G.: Strategie 5.0 zur Bewältigung der neuen Herausforderungen. In: Competivation Blog, 28.06.2022

[12] Rest, J.: Knall oder Fall. In: Manager Magazin, Juni 2023, S. 24-30

[13] Kyriasoglou, C.: Cloud und leise. In: Manager Magazin, August 2023, S. 48-52

[14] Mazzucato, M., Collington, R.: Die große Consulting Show – Wie die Beratungsbranche unsere Unternehmen schwächt, den Staat unterwandert und die Wirtschaft vereinnahmt, Frankfurt 2023

[15] Servatius, H.G.: Die Ressourcen-Plattform mit agilen Teams als neue Organisationsform. In: Competivation Blog, 12.01.2021

[16] Fellenz, M.R., Hoidn, S., Brady, M. (Hrsg.): The Future of Management Education, London 2022

[17] Schwenker, B. et al., Erfolgsfaktor Betriebswirtschaftslehre – Was sie leistet und warum wir sie brauchen, München 2021

[18] Kaufmann, Servatius: a.a.O., S. 81 ff.

[19] Servatius, H.G.: Der Megatrend Konnektivität und seine Treiber. In: Competivation Blog, 26.10.2021

[20] Servatius, H.G.: New Venture Management – Erfolgreiche Lösung von Innovationsproblemen für Technologie-Unternehmen, Wiesbaden 1988

[21] Rath, T., Conchie, B.: Strengths Based Leadership – Great Leaders, Teams, and Why People Follow, New York 2008

[22] Financial Times: Business School Ranking – Executive Education Custom 2023

[23] Shah, D., Pickard, L., Ma, R.: Massive List of MOOC Platforms Around the World, 10. April 2023

[24] Pine, B.J.: Mass Customization – The New Frontier in Business Competition, Boston 1993

[25] Piller, F.T.: Kundenindividuelle Massenproduktion – Die Wettbewerbsstrategie der Zukunft, München 1998

[26] Mc Gill, I., Beaty, L.: Action Learning – A Guide for Professional, Management and Educational Development, 2. Aufl., London 1995

[27] Gillmann, B.: Ein Privatlehrer für jeden Schüler. In: Handelsblatt, 30. Juni/ 1./2. Juli 2023, S. 28

[28] Servatius, H.G.: Fraktale Organisation von Strategie 5.0-Laboren. In: Competivation Blog, 28.03.2023

[29] Böschen, M.: Die Produktivitätsmaschine. In: Manager Magazin, Juli 2023, S. 92-96

[30] Kaufmann, Servatius, a.a.O., S. 205 ff.

[31] Rieke, T.: Auf dem Weg zur technologischen Supermacht. In: Handelsblatt, 4. Juli 2023, S. 14-15

[32] Servatius, H.G.: Auf dem Weg zu einem neuen wirtschaftspolitischen Narrativ. In: Competivation Blog, 16.05.2022

[33] Holzki, L.: Bosch setzt auf eigenes KI-Modell à la ChatGPT. In: Handelsblatt, 11./12./13. August 2023, S. 26-27

[34] Obmann, C.: So werden Ihre Mitarbeiter KI-fit. In: Handelsblatt, 11./12./13. August 2023, S. 52-53

 

Fraktale Organisation von Strategie 5.0-Laboren

Fraktale Organisation von Strategie 5.0-Laboren

Bei der Umsetzung der fünften Entwicklungsstufe eines verbindenden strategischen Managements entstehen gegenwärtig neue Formen von Strategielaboren mit einer fraktalen Struktur. Ein wichtiger Treiber ist die generative Künstliche Intelligenz (KI)

 

In diesem Blogpost berichte ich über unsere Erfahrungen bei der Implementation einer Strategie 5.0

 

Ist die traditionelle Strategiearbeit noch zeitgemäß?

Angesichts des Ausmaßes und der Dringlichkeit neuer Herausforderungen überlegen viele Unternehmen, ob ihre traditionelle Strategiearbeit noch zeitgemäß ist. In unseren Gesprächen mit Klienten hören wir immer wieder die folgenden Fragen:

  • Müssten die Strategieentwicklung und -umsetzung sowohl politischer als auch verbindender werden?
  • Sollten wir die Behandlung strategischer Themen besser integrieren, um die zunehmende Komplexität zu bewältigen und
  • was bedeutet dies für die Organisation einer Stabseinheit für Unternehmensentwicklung?

Wir haben diese Fragen zum Anlass genommen, nach neuen Wegen zu suchen, wie Unternehmen ein weiterentwickeltes strategisches Management organisatorisch umsetzen können.

 

Von der Stabseinheit für Unternehmensentwicklung zum agilen Strategielabor

Die traditionelle Unterstützung der Aufsichts- und Führungsebenen bei der Strategiearbeit erfolgt durch eine Stabseinheit für Unternehmensentwicklung. Während der verschiedenen Entwicklungsstufen des strategischen Managements1 sind zu diesem Stab weitere Einheiten hinzugekommen, die sich z.B. mit den strategischen Themen Innovation, digitaler Wandel und Nachhaltigkeit beschäftigen. Dies führt zu einer zersplitterten Strategieentwicklung und erschwert die Umsetzung in operatives Handeln.

Um diese Probleme zu überwinden, gehen Pionierunternehmen dazu über, die Einheiten, die sich mit strategischen Handlungsfeldern beschäftigen, in einem agilen Strategielabor zu verbinden. Bei der Gestaltung einer solchen Einheit orientieren sie sich an den Grundprinzipien einer fraktalen Organisation. Da der Fraktalbegriff in aktuellen Publikationen z.B. der Boston Consulting Group relativ mehrdeutig verwendet wird,2 wollen wir kurz erläutern, was man in der Wissenschaft unter einem Fraktal versteht.

 

Von der fraktalen Geometrie zur fraktalen Organisation

Den Begriff Fraktal hat 1975 der Mathematiker Benoit Mandelbrot (1924-2010) geprägt. Er bezeichnet damit bestimmte natürliche oder künstliche Gebilde oder geometrische Muster, die zu sich auf unterschiedlichen Größenskalen selbstähnlich sind. Das berühmteste Fraktal ist die Mandelbrot-Menge – das sogenannte Apfelmännchen.3 Erfolgreiche Unternehmen und ihre Strategielabore – so unsere These – sind selbstähnlich.

 

Lernprozess Innovationsstrategie

 

Der frühere Leiter des Stuttgarter Fraunhofer-Instituts für Produktionstechnik und Automatisierung (IPA) Hans-Jürgen Warnecke (1934-2019) hat Anfang der 1990er Jahre eine Analogie zwischen der fraktalen Geometrie und einer Gestaltung der Produktion beschrieben und den Begriff fraktale Fabrik geprägt.4

Ausgehend von meinem Habilitationsvortrag 1991 an der Universität Stuttgart, in dem ich mich mit der Relevanz von Chaostheorie und fraktaler Geometrie für den Wandel komplexer sozialer Systeme beschäftigt habe, ist die Idee zu einer fraktalen Organisation mit selbstähnlichen Strukturen entstanden.5 An diese Modellvorstellung knüpft unser Konzept für fraktale Strategielabore an.

Bevor ich hierauf näher eingehe, möchte ich zunächst Überlegungen von früheren Kollegen der Boston Consulting Group zu fraktalen Wettbewerbsvorteilen kritisch hinterfragen.

 

Fraktale Wettbewerbsvorteile mit Anti-Skalierungsstrategien?

Die BCG-Autoren vertreten die These, eine neue Form von fraktalen Wettbewerbsvorteilen ließe sich mit Anti-Skalierungsstrategien erzielen, bei der die Anpassung an lokale Kontexte eine wichtige Rolle spiele.6

Die Bedeutung lokaler Kontexte ist in der Vergangenheit sicherlich unterschätzt worden.7 Gegen die Anti-Skalierungsthese spricht aber, dass große Digitalkonzerne und erfolgreiche Start-ups auf Organisationsformen setzen, die die Vorteile von Zentralität und Dezentralität verbinden. Die Grundstruktur einer solchen Organisation besteht aus drei Bausteinen:8

  1. Einer zentralen, „zusammensetzbaren“ (composable) IT-Plattform, die mit Hilfe von Technologien der Künstlichen Intelligenz große Datenmengen verarbeitet
  2. der Skalierung von agilen Teams, die für die nötige Kundennähe und bedarfsorientierte Innovationen sorgen sowie
  3. einem disruptiven Stakeholder-Ökosystem, in dem Akteure aus Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Gesellschaft zusammenarbeiten.

Das Herzstück der zentralen IT-Architektur ist eine Application Composition Plattform (ACP), die sich an dem vom IT-Analysten Gartner entwickelten Konzept eines Composable Enterprise orientiert.9 Diese Plattform ist die Entwicklungsumgebung für zusammensetzbare Fähigkeiten oder Packaged Business Capabilites (PBC), die die Grundlage für Prozesse und Anwendungen bilden. Das Prinzip der Zerlegbarkeit (Composability) ermöglicht es den Akteuren des Unternehmens und seinen Partnern, PBCs hinzuzufügen, zu ändern oder zu entfernen. Man kann also sagen, dass Composability den Grundgedanken einer fraktalen (selbstähnlichen) Organisation in die heutige IT-Welt überträgt.

Bei dieser Organisationsform mit einer Infrastruktur-Plattform, agilen Teams und einem Stakeholder-Ökosystem werden die Aufsichts- und Führungsebenen von einem Strategielabor unterstützt.

 

Lernprozess Innovationsstrategie

 

Diese neuartigen Strategielabore haben eine fraktale Struktur. Was dies konkret bedeutet, erfahren Sie in den folgenden Abschnitten.

 

Verbindung von strategischen Handlungsfeldern

In einem fraktalen Strategielabor sind verschiedene strategische Handlungsfelder verbunden. In der ersten Entwicklungsstufe eines markt- und veränderungsorientierten strategischen Managements haben in vielen Unternehmen neben den Einheiten für Unternehmensentwicklung und Kapitalmarktkommunikation Aktivitäten stattgefunden, die einen strategischen Wandel anstreben. Dabei ist die Arbeit von Strategen und Organisationentwicklern lange Zeit eher nebeneinander als miteinander erfolgt, obwohl natürlich eine Verbindung ihrer unterschiedlichen Ansätze wünschenswert gewesen wäre.

In der frühen Phase der zweiten Entwicklungsstufe wurden Strategic Foresight-Einheiten gebildet, die häufig relativ eigenständig agiert haben. Mit deutlicher Verzögerung gegenüber den USA hat sich auch in Deutschland allmählich ein Corporate Venture Management entwickelt mit der Zielsetzung, dass etablierte Unternehmen mit Start-ups kooperieren oder sich an ihnen beteiligen. Seit den frühen 1980er Jahren sind dann strategische Einheiten für Technologie- und Innovationsmanagement entstanden, die häufig im Forschungs- und Entwicklungsbereich angesiedelt wurden und an einen Chief Technology Manager (CTO) berichten. Zur Bewältigung des digitalen Wandels haben Unternehmen vor einigen Jahren begonnen, mit einem gewissen Abstand zur etablierten Organisation Digitaleinheiten zu gründen, die sich um neue Geschäftsmodelle kümmern. Parallel dazu erfolgt im gesamten Unternehmen eine Digitalisierung der Geschäftsprozesse.

In der dritten Entwicklungsstufe hat die strategische Bedeutung des Themas Nachhaltigkeit zugenommen. Unter dem Druck der neuen EU-Taxonomie streben gegenwärtig Nachhaltigkeitsmanager beim Sustainability Reporting eine Zusammenarbeit mit den Finanz- und Controlling-Abteilungen an.

Die vierte Entwicklungsstufe hat zu einer Neuinterpretation des Risiko- und Krisenmanagements geführt. Die strategische Frage ist, wie Unternehmen resilienter werden können. Eine Beantwortung dieser Frage erfordert neue Kompetenzen, die sich in einen gemeinsamen strategischen Rahmen einfügen sollten.

Eine wichtige Erkenntnis in der entstehenden fünften Entwicklungsstufe ist zunächst einmal, wie fragmentiert das strategische Management geworden ist. Eine Gegenmaßnahme ist daher die Wiederherstellung von Konnektivität.10 Die Erarbeitung eines gemeinsamen Narrativs des Unternehmens betrifft nicht nur die klassischen Kommunikationsfunktionen, sondern in zunehmendem Maße auch die Gestaltung von disruptiven Stakeholder-Ökosystemen.11 Dabei spielt neben der kontextuellen und beziehungsorientierten Intelligenz von Führungskräften ihre Fähigkeit zur Social-Media-Kommunikation eine wichtige Rolle.12 Außerdem übernehmen Strategie 5.0-Labore Aufgaben bei der Personalentwicklung und beim Employer Branding und steigern so die Attraktivität des Unternehmens für jüngere Generationen. In der Abbildung sind diese strategischen Handlungsfelder zusammengefasst.

 

Lernprozess Innovationsstrategie

 

Die spannende Frage ist, wie in einem solchen innovativ gestalteten Strategielabor die Verbindung der Handlungsfelder gelingt. Diese Frage führt uns zurück zu fraktalen Prinzipien der Selbstähnlichkeit. Im Folgenden beschreibe ich unsere Erfahrungen bei einer Erneuerung der traditionellen Einheiten für Unternehmensentwicklung.

 

Prinzipien der Selbstähnlichkeit

Interessanterweise streben gegenwärtig einige europäische Hidden Champions die Reintegration strategischer Handlungsfelder an. Ein Grund hierfür ist die zunehmende Resilienzorientierung, die darauf abzielt, gemeinsam Krisen zu meistern und Chancen zu nutzen. Hierbei knüpfen die Unternehmen an eine lange Tradition erfolgreicher regionaler Cluster an.13

Der Begriff Strategielabor soll zum Ausdruck bringen, dass eine solche Einheit nicht nur strategische Analysen durchführt, sondern auch in enger Zusammenarbeit mit den operativen Teams Lösungsansätze gestaltet, diese testet und die Skalierung vorantreibt.

In diesen Strategielaboren mit fraktaler Organisation gelten acht Governance-Prinzipien der Selbstähnlichkeit, die in der Abbildung zusammengefasst sind.

 

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Das erste Prinzip ist das gemeinsame Ziel, unterschiedliche Herausforderungen zu bewältigen, die alle eine strategische Dimension haben. Auf diese Weise wird einer Fragmentierung des strategischen Denkens und Handelns entgegenwirkt.

Prinzip zwei sind die konnektiven Fähigkeiten von Strategen und operativen Teams mit verschiedenen Spezialisierungen. Diese Fähigkeiten verbinden die Akteure bei der Strategieentwicklung und -umsetzung in den Handlungsfeldern.

Ein weiteres verbindendes Element ist ein gemeinsames Wertesystem bei der Anwendung agiler Arbeitsprinzipien. So werden auch in größeren Organisationen schnelle Richtungsänderungen gefördert. Hierbei hilft ein agiles Performance Management mit der Objectives and Key Results (OKR-) Methode.

Das vierte Prinzip ist die Einbettung des Strategielabors in einen passenden organisatorisch-kulturellen Rahmen des Unternehmens. Diese Einbettung verringert die Distanz zwischen strategischen und operativen Aktivitäten.

Ein solches Strategielabor ist ein Lernraum für die Zusammenarbeit von angehenden Führungskräften und erfahrenen Praktikern. Die dort gesammelten Erfahrungen tragen dazu bei, im Hinblick auf wichtige Zukunftsthemen, wie der Anwendung von Künstlicher Intelligenz, Brücken zwischen den Generationen zu bauen.

Diese Vielfalt der Akteure erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass innovative Strategien entstehen, die auch umsetzbar sind. So kann es gelingen, weit verbreitete Innovationsbarrieren zu überwinden.

Ein siebtes Prinzip ist die Förderung der Kooperation mit Partner-Organisationen, die nach ähnlichen Grundmustern arbeiten. In einer Zeit, in der der Wettbewerb zunehmend zwischen disruptiven Stakeholder-Ökosystemen stattfindet, wird ein reibungsloses Zusammenspiel der Akteure immer wichtiger.

Unsere praktische Erfahrung aus gemeinsamen Projekten mit Klienten zeigt, dass diese zukunftsorientierten Strategielabore eine vielversprechende Alternative zu den traditionellen Einheiten für Unternehmensentwicklung sind. Dabei praktizieren wir ein Action Learning für die Verbindung von kontextueller und beziehungsorientierter Intelligenz. So leisten die fraktalen Strategielabore einen wichtigen Beitrag zur Führungskräfteentwicklung.

Prinzip acht ist die Verbindung von menschlicher Intelligenz mit generativer KI zu einer hybride Intelligenz. Wir wollen zunächst skizzieren, welche Treiberrolle die generative KI inzwischen übernommen hat.

 

Generative KI als Game Changer

Als Tim Kaufmann von SAP und ich 2020 unser Buch „Das Internet der Dinge und Künstliche Intelligenz als Game Changer“ publiziert haben,14 ahnten wir, dass die Entwicklung noch dramatischer verlaufen könnte als damals prognostiziert wurde. Dieser Fall ist inzwischen eintreten. Nach Analysen des Marktforschungsunternehmens IDC werden die weltweiten Investitionen in Künstliche Intelligenz von 2023 bis 2026 von 151,4 auf 308,3 Milliarden US-Dollar steigen. Ein wichtiger Treiber dieser Entwicklung ist eine neue KI-Generation großer Sprachmodelle wie GPT mit einer Vielzahl möglicher Anwendungsfelder.15 Hierbei steht die Abkürzung GPT für Generative Pre-Trained Transformer.

Große Sprachmodelle (Large Language Models LLM) nutzen künstliche neuronale Netzwerke, die mit Hilfe eines selbst-überwachten Lernens das nächste Wort in einem Satz vorhersagen. Sie gehören zum Typ der generativen Künstlichen Intelligenz, die Texte oder Bilder als Antwort auf gesprochene Fragen erzeugt.

Im Zentrum des Hypes um generative KI steht das von Peter Altmann gegründete Start-up-Unternehmen OpenAI, an dem Microsoft beteiligt ist. OpenAI hat nicht nur den Super-Chatbot ChatGPT entwickelt, sondern mit Dall-E auch ein Programm, das zu Texteingaben komplexe Bilder generieren kann.

Zwischen Digitalriesen wie Microsoft, Alphabet/Google und dem chinesischen Unternehmen Baidu ist ein Kampf um die Vorherrschaft bei der generativen KI entbrannt. So hofft Microsoft, mit einer Integration von generativer KI in seine Suchmaschine Bing im Wettbewerb mit dem Marktführer Google aufholen zu können.

OpenAI hat Mitte März 2023 seine neue Version GPT-4 vorgestellt, die eine deutliche Verbesserung gegenüber der Version 3.5 darstellt. Hierzu zählen z.B. Innovationen wie eine „Systembotschaft“, mit der Anwendende eine genaue Nutzung oder einen Nutzungsstil anfordern können. Der CEO von Microsoft Satya Nadella, der GPT-4 als wichtige Ergänzung seiner Cloud-Infrastruktur Azure betrachtet, spricht von einer „Neuerfindung der Produktivität durch KI“.16

Während große Digitalkonzerne und Start-ups um die KI-Führerschaft ringen, diskutiert die Europäische Union (EU) den sogenannten AI Act, der im Sommer 2023 in Kraft treten soll. Dieses Regelwerk versucht, alle erdenklichen Risiken im Zusammenhang mit Künstlicher Intelligenz zu vermeiden. Neben der Nachhaltigkeitsberichterstattung entsteht so in Europa ein weiteres Bürokratiemonster.

 

Implikationen für die Strategiearbeit von Führungskräften

Dies alles hat gravierende Auswirkungen für wissensintensive Prozesse in Unternehmen und deren Strategieabteilungen. Dabei liegt die strategische Bedeutung von generativer KI darin, dass die Sprachmodelle die Arbeit von Führungskräften in einer Reihe verbundener Anwendungsfelder unterstützen kann.17 In der Abbildung sind einige Beispiele dargestellt. Für die Strategiearbeit bedeutet dies, dass es immer mehr darauf ankommt, die neuen mächtigen Werkzeuge geschickt zu nutzen. Konkret heißt das, die richtigen Fragen zu stellen, mögliche Effizienz- und Geschwindigkeitsvorteile bei Recherchen zu nutzen, die Qualität der Ergebnisse zu kontrollieren und Resultate aus verschiedenen Feldern kreativ zusammenzufügen.

 

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Vor allem für kleinere Unternehmen besteht dabei die Gefahr, in eine starke Abhängigkeit von großen Digitalkonzernen zu geraten, an die man Teile der Strategiearbeit auslagert. Ein besserer Weg wäre, die eigene Kompetenz im Umgang mit generativer KI zu steigern und die Programme mit unternehmensspezifischen Daten zu trainieren. Ein Strategielabor mit fraktaler Organisation unterstützt die Integration relevanter Aufgabenfelder.

 

Reintegration und Erweiterung des strategischen Managements

Wir können zusammenfassen, dass verschiedene Muster die zeitliche Entwicklung des strategischen Managements geprägt haben. In der Entstehungsphase ist das große Nutzenversprechen die integrierte Sicht der betrieblichen Funktionsbereiche gewesen. Da diese Sicht überwiegend marktorientiert war, erfolgte eine Erweiterung um neue strategische Handlungsfelder beginnend mit dem Thema Technologie und Innovation. Inzwischen werden die anfänglichen Vorteile der Erweiterung durch die Nachteile einer Fragmentierung des strategischen Managements überkompensiert. Hieraus ergibt sich die Notwendigkeit einer Reintegration der strategischen Handlungsfelder. Diese dialektische Abfolge von Mustern ist in der Abbildung dargestellt

 

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Gleichzeitig vollzieht sich gegenwärtig eine erneute Erweiterung z.B. um das Thema hybride Intelligenz, die alle strategischen Handlungsfelder betrifft. Im Mittelpunkt steht dabei die Verbindung von menschlicher Intelligenz mit Werkzeugen der generativen KI wie GPT. In Analogie zum Sport könnte man sagen, dass die Disziplin Stabhochsprung eine neue Art von Stäben bekommt. Die Springer müssen aber lernen, diese innovativen Werkzeuge in einer erlaubten Weise zu nutzen. Dies hat weitreichende Implikationen für die Ausbildung und die Personalentwicklung in Organisationen. Traditionelle Inhalte in Fachdisziplinen wie der Betriebswirtschaftslehre bedürfen einer Ergänzung und Verbindung.

Im Treffen des von Frank Piller geleiteten Expertenkreises für Innovationsmanager (TIMEX) an der RWTH Aachen am 23. März 2023 zum Thema KI lag der Schwerpunkt bei einer Erweiterung der Kreativität.18 Dies ist eine wichtige Dimension. So kooperieren z.B. das dänische Pharmaunternehmen Novo Nordisk und Microsoft, um mit Hilfe von generativer KI die Innovation von Medikamenten zu beschleunigen. Eine andere Dimension ist die Veränderung von Tätigkeiten, die auf dem im Internet vorhandenen Wissen aufbauen. Führungskräfte müssen Menschen „mitnehmen“, die Sorge um ihren Arbeitsplatz haben. Möglicherweise liegt hier gegenwärtig das größte Game Changer-Potenzial.

 

Bessere Verbindung von strategischem und operativem Management

Strategie 5.0-Labore leisten einen wichtigen Beitrag zur besseren Verbindung eines weiterentwickelten strategischen Managements mit einem produktiveren operativen Management. Angesichts der zunehmenden Bedeutung der Erneuerung von Unternehmen wächst die Größe der Schnittmenge zwischen diesen beiden Managementebenen. Das Beispiel der generativen KI zeigt, wie wichtig es ist, nicht nur die Strategiearbeit um ein neues Handlungsfeld zu erweitern, sondern auch das Tagesgeschäft mit den innovativen Werkzeugen zu optimieren.

 

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In unseren Beratungsprojekten machen wir die Erfahrung, dass der Nutzen von Strategie 5.0-Laboren vor allem in den folgenden drei Punkten liegt:

  1. Einer Überwindung der Mängel früherer Entwicklungsstufen des strategischen Managements z.B. bei der Umsetzung von Strategien19
  2. der Realisierung einer seit langem angestrebten Ambidextrie („Beidhändigkeit“) von Innovation und Produktivität in einer lernenden Organisation20 sowie
  3. einer Ausschöpfung des vollen Potenzials eines verbindenden strategischen Managements auf der Grundlage von Governance-Prinzipien der Selbstähnlichkeit.21

Daher liegt gegenwärtig der Schwerpunkt unserer anwendungsorientierten Forschung gemeinsam mit Klienten in einer Vertiefung der Erkenntnisse zu diesem neuen Managementkonzept.

Fazit

  • In der fünften Entwicklungsstufe eines verbindenden strategischen Managements entstehen aus Einheiten für Unternehmensentwicklung Strategielabore mit einer fraktalen Struktur
  • Fraktale sind durch Selbstähnlichkeit auf unterschiedlichen Größenskalen gekennzeichnete Gebilde oder Muster
  • Diese Strategie 5.0-Labore unterstützen die Aufsicht und Führung im Rahmen von neuen Organisationsformen mit einer zentralen Infrastruktur-Plattform, agilen Teams und einem disruptiven Stakeholder-Ökosystem
  • Fraktale Strategielabore verbinden Handlungsfelder, die in den verschiedenen Entwicklungsstufen des strategischen Managements entstanden sind. Damit verfolgen Unternehmen das Ziel, einer Fragmentierung entgegenzuwirken und eine kreative Integration wiederherzustellen
  • Die Gestaltung von fraktalen Strategielaboren orientiert sich an acht Governance-Prinzipien der Selbstähnlichkeit
  • Diese Entwicklung wird durch den aktuellen Technologietrend einer generativen KI beschleunigt, der erhebliche Kreativitäts- und Produktivitätsgewinne bei der Zusammenarbeit von Strategieexperten und operativen Teams ermöglicht
  • Das Neue an Strategie 5.0-Laboren ist die gleichzeitige Reintegration und Erweiterung strategischer Handlungsfelder
  • Strategie 5.0-Labore fördern eine bessere Verbindung zwischen dem strategischen und dem operativen Management

 

 

Literatur

[1] Servatius, H.G.: Strategie 5.0 zur Bewältigung der neuen Herausforderungen. In: Competivation Blog, 28.06.2022

[2] Bhattacharya, A., Bürkner, H.P., Bailey, A., Verma, S.: The Organization of the Future is Fractal, 31. Mai 2022

[3] Mandelbrot, B.B.: Die fraktale Geometrie der Natur, Bagel 1991

[4] Warnecke, H.J.: Die Fraktale Fabrik – Revolution der Unternehmenskultur, Berlin 1992

[5] Servatius, H.G.: Reengineering-Programme umsetzen – Von erstarrten Strukturen zu fließenden Prozessen, Stuttgart 1994, S. 121 ff.

[6] Bhattacharya, A., Bürkner, H.P., Gallego, A.: Building Fractal Advantage in a Fragmenting World, 15. November 2021

[7] Khanna, T.: Contextual Intelligence. In: Harvard Business Review, September 2014

[8] Servatius, H.G.: Die Ressourcen-Plattform mit agilen Teams als neue Organisationsform. In: Competivation Blog, 12.01.2021

[9] Scheer, A. W.: Composable Enterprise – Paradigmenwechsel für Digitalisierung und Unternehmenssoftware. In: IM+io – Best & Next Practices aus Digitalisierung, Management und Wissenschaft, 38. Jahrgang, Heft 1, 2023, S. 96-109

[10] Servatius, H.G.: Der Megatrend Konnektivität und seine Treiber. In: Competivation Blog, 13.10.2021

[11] Servatius, H.G.: Gestaltung von innovativen Stakeholder-Ökosystemen. In: Competivation Blog, 10.01.2023

[12] Servatius, H.G.: Strategisch führen mit kontextueller und beziehungsorientierter Intelligenz. In: Competivation Blog, 14.03.2023

[13] Hauser, E. (Hrsg.): Clustermanagement – Wie Cluster die Innovation und Wettbewerbsfähigkeit unterstützen, Wiesbaden 2017

[14] Kaufmann, T., Servatius, H.G.: Das Internet der Dinge und Künstliche Intelligenz als Game Changer – Wege zu einem Management 4.0 und einer digitalen Architektur, Wiesbaden 2020

[15] Kerkmann, C.: SAP lotet Einsatz von ChatGPT aus. In: Handelsblatt, 15. März 2023, S. 24-25

[16] Holtermann, F., Jahn, T., Scheuer, S.: Neue Runde im Ringen um die KI-Vorherrschaft. In: Handelsblatt, 16. März 2023, S. 20-21

[17] Candelon, F., Gupta, A., Krayer, L., Zhukov, L.: The CEO’s Guide to the Generative AI Revolution, 7. März 2023

[18] Bouchery, S.G., Blazevic, Piller, F.T.: Augmenting Human Innovation with Artificial Intelligence – Exploring Transformer-based Large Language Models. In: Journal of Product Innovation Management, Volume 40, Issue 2, S. 139-153 (10. Januar 2023)

[19] Servatius, H.G.: Let’s Connect! Personalentwicklung für Stakeholder-Ökosysteme. In: IM+io – Next Practices aus Digitalisierung, Management und Wissenschaft, 38. Jahrgang, Heft 1, 2023, S. 40-43

[20] Servatius, H.G.: Ambidextrous Leadership zur Bewältigung des digitalen Wandels. In: Competivation Blog, 13.06.2017

[21] Servatius, H.G.: Corporate Governance für den strategischen Wandel. In: Competivation Blog, 16.11.2022

Strategisch führen mit kontextueller und beziehungsorientierter Intelligenz

Strategisch führen mit kontextueller und beziehungsorientierter Intelligenz

Die Bewältigung der gegenwärtigen Herausforderungen erfordert von Führungskräften eine Verbindung von kontextueller und beziehungsorientierter Intelligenz. Die hierzu benötigten konnektiven Fähigkeiten sind bis zu einem gewissen Grad erlernbar.

 

In diesem Blogpost erläutern wir weitere wichtige Bausteine der fünften Entwicklungsstufe des strategischen Managements (Strategie 5.0)

 

Wir schaffen das – aber wie?

Das im Zuge der Flüchtlingskrise am 31. August 2012 von der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel Geäußerte: „Wir schaffen das“ ist noch in guter Erinnerung. Leider hat sich in der Folgezeit bei einer Vielzahl großer Herausforderungen gezeigt, dass es keine Antworten auf die Anschlussfrage: „Aber wie?“ gab oder diese nicht erfolgreich waren. Meine These ist, dass man von einem Grundmuster des Misslingens sprechen kann.

Eine solche Situation zeichnet sich gegenwärtig bei den vom Wirtschafts- und vom Bauministerium geplanten ehrgeizigen Vorgaben zur Beschleunigung der Wärmewende ab. Danach soll ab dem Jahr 2024 der Einbau von Gas- und Ölheizungen nicht mehr gestattet sein. Der entsprechende Referentenentwurf hat heftige Proteste unter anderem vom Koalitionspartner FDP, der Opposition, der Wohnungswirtschaft und dem Handwerk ausgelöst. Die Kritiker halten die Vorgaben, die eher an eine Planwirtschaft erinnern als an eine ökologisch-soziale Marktwirtschaft, für nicht umsetzbar.

Kennzeichnend für die ernüchternde Realität ist das Talkshow-Muster einer polarisierenden Kommunikation. Ein Beispiel liefert die Sendung mit Markus Lanz am 31. Januar 2023 im ZDF. Der amtierende Wirtschaftsminister, eine Professorin für Bauphysik und ein Betreiber von Windanlagen unterhalten sich über Probleme bei der Energiewende. Es gibt gute Analysen und es scheinen auch mögliche Lösungsansätze, wie man z.B. die überbordende Bürokratie in den Griff bekommen könnte, auf dem Tisch zu liegen. In Erinnerung bleiben die Bonmots „global schwätzen – lokal verhindern“ und „Windmüller gegen Artenschützer“. Aber dann verebbt die Diskussion – wie eigentlich immer – in kleinteiligen Positionskämpfen auf der Suche nach medialer Aufmerksamkeit.

Was offensichtlich fehlt, ist ein funktionierender Ansatz zur praktischen Lösung der bekannten Probleme unter aktiver Beteiligung der an einer Lösung interessierten Stakeholder. Hier setzt unser Ansatz der fünften Entwicklungsstufe eines verbindenden strategischen Managements an.1 Wir wollen kurz skizzieren, was an einer solchen Strategie 5.0 neu ist.

 

Was ist das Neue an einer Strategie 5.0?

In meinen letzten Blogposts zum Thema Strategie 5.0 habe ich erläutert, wie sich die ersten vier Stufen verbinden und weiterentwickeln und wie dabei eine fünfte Stufe entstanden ist, die sich selbst in einem dynamischen Veränderungsprozess befindet. Ein Beispiel liefert die Stufe drei eines nachhaltigkeitsorientierten strategischen Managements. Angesichts der Irrwege beim ESG-Investing und bei der EU-Taxonomie zeichnet sich hier das Konzept der nachhaltigen Wertsteigerung mit einem neuen Reporting für den strategischen Wandel ab.

Ein weiteres Beispiel ist die generative Künstliche Intelligenz (KI) z.B. mit ChatGPT, die gegenwärtig die zweite Entwicklungsstufe eines technologie- und innovationsorientierten strategischen Managements verändert. Wir sprechen daher von einer Koevolution der früher entstandenen Entwicklungsstufen. Wie bei diesen unterscheiden wir zwischen Grundlagen und Charakteristika. Wichtige Grundlagen der fünften Stufe sind:

  • die Erkenntnis, dass es sich bei Barrieren zwischen Stakeholdern wie z.B. bei der Energiewende um ein „bösartiges“ (wicked) Problem handelt
  • der Megatrend einer technischen Konnektivität z.B. bei digitalen Technologien wie dem Artificial Internet of Things (AIoT)2
  • die zunehmende Bedeutung von Konnektivität im Management mit Lösungsansätzen wie einer verbindenden Führung3 und
  • die in der Praxis noch wenig bekannte Theorie komplexer responsiver Beziehungsprozesse.

Wicked Problems und Complex Responsive Processes of Relating wollen wir hier kurz erläutern.

 

Lernprozess Innovationsstrategie

 

Der Begriff Wicked Problem wurde 1973 von den Professoren für Design und Stadtplanung Horst Rittel und Melvin Webber an der Berkeley-Universität geprägt. Diese „bösartigen“ Probleme haben fünf Charakteristika, die eine Lösung mit traditionellen Ansätzen des strategischen Managements erschweren:4

  1. Das wahrgenommene Problem ist ungewöhnlich und ohne vergleichbare Lösungen
  2. es gibt mehrere betroffene Stakeholder mit Werten und Prioritäten, die zueinander in Konflikt stehen
  3. es gibt viele Problemursachen und diese sind untrennbar miteinander verbunden
  4. es ist unmöglich, sicher zu sein, wann man eine korrekte oder beste Lösung hat und
  5. das Verständnis, was das Problem ist, verändert sich im Kontext vorgeschlagener Lösungen.

Für die Bewältigung der Komplexität dieser Probleme gibt es bislang keine befriedigenden Konzepte.

 

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Interessanterweise haben Praktiker, Berater und Wissenschaftler in den ersten vier Entwicklungsstufen des strategischen Managements die Schwierigkeiten dieser      „bösartigen“ Probleme unterschätzt. Eine psychologische Erklärung hierfür mag darin liegen, dass alle diese Akteure dazu neigen, ihre Ohnmacht gegenüber der Komplexität der Herausforderungen zu verdrängen und gerne auf die Machbarkeitsillusion vertrauen, die das traditionelle strategische Management-Paradigma vermittelt.

In dieser Situation kommt ein alternativer Ansatz ins Spiel: Die von Ralph Stacey (1948-2021), der Professor an der Universität von Hertfordshire nördlich von London war, geprägte Theorie komplexer responsiver Beziehungsprozesse.5

Staceys wissenschaftliche Leistung besteht darin, die überwiegend naturwissenschaftlich geprägte Theorie komplexer adaptiver Systeme angepasst und auf das Management übertragen zu haben. Im Mittelpunkt der Arbeit des von ihm gegründeten Complexity and Management Centres (CMC) stehen lokale, nichtlineare Interaktionen zwischen Menschen. Aus dem ungewissen Ausgang der Gesamtheit dieser Interaktionen können sich unterschiedliche Muster ergeben, die nicht prognostizierbar sind. Daher ist es schwer, mit Hilfe von Methoden allgemeine Handlungsempfehlungen zu geben. Wichtig ist hingegen, aus einem tiefen Verständnis der lokalen Interaktionen die Emergenz möglicher Muster abzuleiten.

Stacey ist skeptisch bezüglich des Einsatzes von Methoden bei der Gestaltung von Systemen. Er empfiehlt, Einfluss auf die Rahmenbedingungen oder den Kontext zu nehmen, wobei die Vorstellung von einem System immer eine Abstraktion sei. Welche Aktivitäten erfolgreich sind, hängt entscheidend von dem sich verändernden Kontext ab. Damit liefert die Theorie komplexer responsiver Prozesse eine wichtige Grundlage für das Thema kontextuelle und beziehungsorientierte Intelligenz.

Eine Weiterentwicklung von Staceys Ansatz führt uns zu den Charakteristika einer Strategie 5.0. Diese sind:

  • die Koevolution der früher entstandenen Entwicklungsstufen
  • die Gestaltung von disruptiven Stakeholder- und Innovationsökosystemen6
  • eine Corporate Governance für den strategischen Wandel7
  • eine strategische Führung mit kontextueller und beziehungsorientierter Intelligenz
  • verbindende Fähigkeiten und
  • ein authentisches Führungsverhalten bei der Social-Media-Kommunikation

Das Thema kontextuelle Intelligenz knüpft an eine berühmte Studie der Harvard Business School an.

 

Zeitgeist Leadership Reloaded

Unter dem Titel „Zeitgeist Leadership“ haben im Jahr 2005 die Harvard-Professoren Mayo und Nohria die Ergebnisse einer Studie zusammengefasst, in der 1000 außergewöhnliche US-Wirtschaftsführer analysiert wurden.8 Diese Führungskräfte zeichnet die Fähigkeit aus, Chancen zu erkennen und zu nutzen, die sich aus dem Zeitgeist einer bestimmten Epoche ergeben. Erfolgreiche strategische Führung hängt demnach zu einem Großteil vom Umfeld oder Kontext ab. Dieser Kontext wird durch sechs Einflussfaktoren bestimmt. Personen, die Veränderungen bei diesen Faktoren rechtzeitig wahrnehmen, verfügen über kontextuelle Intelligenz. Die Einflussfaktoren sind:

  1. Globale Ereignisse
  2. staatliche Eingriffe
  3. die Arbeitsverhältnisse
  4. die Demografie
  5. gesellschaftliche Normen und
  6. technologische Entwicklungen.

Diese spezifische Form der Intelligenz ist heute wichtiger denn je, Nitin Nohria hat vor kurzem eine aktualisierte Analyse vorgelegt und einige Entwicklungen beschrieben9 – eine Art Zeitgeist Leadership Reloaded. Wir haben die Faktoren am Beispiel der Energie- und Mobilitätswende in Deutschland betrachtet. In der Abbildung sind diese Aspekte beschrieben.

 

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Kennzeichnend für die Krisenjahre 2022 und 2023 ist das Wort „Zeitenwende“, das Bundeskanzler Olaf Scholz kurz nach Anbruch des Kriegs in der Ukraine in einer Sondersitzung des Bundestags am 27. Februar 2022 geprägt hat. Auch hier kommt es wieder darauf an, wie schnell es gelingt, die Zeitenwende zu meistern, damit sie nicht zu einer Wende in Zeitlupe wird.

Angesichts dieser Situation stellt sich die Frage, ob und wie man die kontextuelle Intelligenz von vorhandenen und angehenden Führungskräften entwickeln kann. Dabei ist das Lernziel, das Zusammenwirken relevanter Einflussfaktoren besser zu verstehen.

 

Multiple Intelligenzen als Ausgangspunkt

Den Ausgangspunkt für eine kontextuelle und eine beziehungsorientierte Intelligenz bildet die 1983 publizierte Theorie der multiplen Intelligenzen des Entwicklungspsychologen und Harvard-Professors Howard Gardner.10

Gardner unterscheidet zwischen acht Formen der Intelligenz und erweitert damit die traditionelle Vorstellung von einer sprachlich-linguistischen und logisch-mathematischen Intelligenz.

 

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Die beiden traditionellen Vorstellungen von Intelligenz bilden eine wichtige Grundlage für die strategische Analyse und Intuition. Im strategischen Management dominierte lange Zeit die relativ einseitige Sichtweise, dass die Fähigkeit zur strategischen Analyse der primäre Erfolgsfaktor für erfolgreiche Strategiearbeit sei. Die Bedeutung der strategischen Intuition wurde dabei unterschätzt.11 Neuere Forschungsergebnisse zeigen jedoch, dass es auf eine Kombination von strategischer Analyse und strategischer Intuition ankommt.12 Diese Kombination spielt eine entscheidende Rolle bei der strategischen Vorausschau (Foresight), die gegenwärtig angesichts der zahlreichen Krisen eine Neuinterpretation in Richtung Resilienz erlebt (Strategie 4.0).

In den 1990er Jahren entstand aus der Verknüpfung von interpersonaler und intrapersonaler Intelligenz die Theorie einer emotionalen Intelligenz, die durch den Psychologen und Wissenschaftsjournalisten Daniel Goleman bekannt geworden ist.13 Seit dieser Zeit hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass erfolgreiche Führungskräfte auch über emotionale Intelligenz verfügen sollten.14

Wenn man heute von einer unternehmerischen Intelligenz spricht, so verstehen wir darunter das Zusammenwirken von

  • resilienzorientierter strategischer Vorrauschau und
  • emotionaler Intelligenz.

Leider kommt die bewusste Förderung dieses Zusammenwirkens in vielen Programmen zur Führungskräfteentwicklung zu kurz.

Die Abbildung verdeutlicht, dass wir das Konzept der kontextuellen Intelligenz von Führungskräften als Weiterentwicklung ihrer Fähigkeit zu Strategic Foresight betrachten. Das Konzept einer beziehungsorientierten Intelligenz basiert auf der Theorie der emotionalen Intelligenz. Noch wenig erforscht sind die konnektiven Fähigkeiten zur Verbindung von kontextueller und beziehungsorientierter Intelligenz.15

 

Kontextuelle Intelligenz entwickeln

Ein Beispiel für die Bedeutung von kontextueller Intelligenz liefert der Versuch der Europäischen Union (EU), eine Antwort auf den US-amerikanischen Inflation Reduction Act (IRA) der Biden-Regierung zu finden. Während man in den USA auf einen pragmatischen Ansatz zur Förderung von Umwelttechnologien setzt, halten die Beamten in Brüssel am Bürokratie-Monster ihrer Nachhaltigkeitstaxonomie fest. Leidtragende sind vor allem mittelständische Unternehmen, die nicht die finanzielle Kraft haben, in den USA zu produzieren und sich mit der Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRB) auseinandersetzen müssen, anstatt GreenTech-Innovationen voranzutreiben.16

Diese Unterscheide in Wirtschaftsräumen verdeutlichen, dass es bei der Entwicklung von kontextueller Intelligenz darauf ankommt, nicht nur den Heimatmarkt zu verstehen, sondern auch andere Ausprägungen von Kontextfaktoren und lokalen Interaktionen in relevanten Teilen der Welt mit Rahmenbedingungen und einer Kultur, die sich vom Heimatmarkt unterscheiden. Das strategische Management hat den Einfluss dieser Unterschiede lange Zeit unterschätzt.17

 

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Ein aktuelles Beispiel liefert das neue Geschäftsmodell der Elektromobilität mit seiner unterschiedlichen Gestalt in Europa und in China. Für deutsche Hersteller von Fahrzeugen mit Verbrennungsmotor ist der wichtige chinesische Markt lange Zeit eine Erfolgsgeschichte gewesen. Bei der Elektromobilität droht sich das Blatt zu wenden. Chinesische Anbieter dominieren nicht nur ihren Heimatmarkt, sondern könnten mit ihrer hohen vertikalen Integration z.B. bei kleineren Fahrzeugklassen auch zu gefährlichen disruptiven Wettbewerbern in Europa werden.18 Die Herausforderung für deutsche Unternehmen liegt nun darin, ihr Geschäftsmodell an den chinesischen Markt anzupassen und den Heimatmarkt gegen Angreifer zu verteidigen.

Eine wichtige Empfehlung für europäische Unternehmen ist daher, dass diese sich im Rahmen der fünften Entwicklungsstufe des strategischen Managements intensiver mit dem tief in den Kulturen asiatischer Länder verankerten pragmatischen Strategieverständnis beschäftigen sollten. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, was zu tun ist und wie etwas zu tun ist. Die Antwort auf diese Frage liegt in der Orchestrierung von Vermögenswerten (Wuli), Fähigkeiten (Shili) und Beziehungen (Renli).19

 

Beziehungsorientierte Intelligenz verbessern

In der Ausbildung von Naturwissenschaftlern und Ingenieuren kommt auch heute das Thema beziehungsorientierte Intelligenz bestenfalls am Rande vor.

Auf dem Weg zu erfolgreichen Unternehmensgründern oder Führungskräften in großen Organisationen haben diese Berufsgruppen die folgenden Optionen:

  • Sie können versuchen, sich die relevanten Fähigkeiten selbst beizubringen
  • sie erwerben eine Zusatzqualifikation, z.B. in Organisationspsychologie und/oder
  • sie vertrauen auf ein Learning by Doing in der Praxis.

Es wäre gut, wenn unsere Bildungs- und Weiterbildungsinstitutionen hierfür entsprechende Angebote entwickeln würden.

Absehbar ist, dass die Bedeutung der beziehungsorientierten Intelligenz weiter zunehmen wird. Die Entwicklung des Sprachmodells ChatGPT durch das Start-up-Unternehmen OpenAI und die Beteiligung von Microsoft haben einen Hype um das Thema generative Künstliche Intelligenz (KI) ausgelöst. Microsoft und Google kündigen an, ihre Suchmaschinen mit Hilfe von KI in Antwortmaschinen zu verwandeln. Die Fähigkeit von KI-Systemen, Gespräche zu führen und Texte zu schreiben, wird die Arbeitswelt verändern. Algorithmen übernehmen weitere Bereiche der traditionellen Wissensarbeit. Aber neben der Fähigkeit von Menschen zur Kooperation mit generativer KI sollten gerade Führungskräfte ihre Kompetenz in beziehungsorientierter Intelligenz verbessern. Denn hier hat KI noch immer große Defizite.

Dabei basiert die beziehungsorientierte Intelligenz auf den Fähigkeiten,20

  • ein harmonisches Verhältnis herzustellen
  • andere zu verstehen
  • individuelle Unterschiede wertzuschätzen
  • Vertrauen zu entwickeln und
  • den eigenen Einfluss zu kultivieren.

In der Abbildung sind die Fähigkeiten näher erläutert. Ein wirkungsvoller Ansatz, um bei diesen Fähigkeiten besser zu werden, ist die Zusammenarbeit mit erfahrenen Mentoren.

 

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Ein wichtiges Anwendungsfeld für beziehungsorientierte Intelligenz im Rahmen einer Strategie 5.0 ist die Gestaltung von Stakeholder- und Innovationsökosystemen. Dabei verstehen wir unter dem Begriff Innovationsökosystem die Entstehungsphase eines Stakeholder-Ökosystems ausgehend von einem mehr oder weniger klar definierten Innovationsfeld. Die Zusammenarbeit zwischen einem etablierten Unternehmen, Wissenschaftlern an Hochschulen, Start-ups, neuen Lieferanten und Kunden sowie „schwierigen“ Akteuren in Politik, Verwaltung und Gesellschaft scheitert häufig an Defiziten bei der beziehungsorientierten Intelligenz der Interaktionspartner.

 

Verbindende Fähigkeiten

Die verschiedenen Entwicklungsstufen des strategischen Managements sind durch spezifische Mängel an verbindenden Fähigkeiten gekennzeichnet. In der gegenwärtigen fünften Stufe kommt es vor allem auf die Konnektivität von Stakeholder- und Innovationsökosystemen an.21 In der Abbildung sind diese Mängel zusammengefasst.

 

Lernprozess Innovationsstrategie

 

In Innovationsökosystemen spielen konnektive Fähigkeiten, die kontextuelle Intelligenz und beziehungsorientierte Intelligenz verbinden, eine wichtige Rolle. Wir wollen das am Beispiel von Start-up-Ökosystemen verdeutlichen. Dabei hat der Begriff Start-up-Ökosystem oder Entrepreneurial Ecosystem22 eine Doppelbedeutung. Er beschreibt

  1. das Innovationsökosystem aus der Sicht eines einzelnen Start-ups bzw. dessen unternehmerischer Führung sowie
  2. das auf Start-ups bezogene Innovationssystem eines Landes oder einer Region.

Einige der verbindenden Fähigkeiten in Start-up-Ökosystemen wollen wir kurz erläutern.

 

Lernprozess Innovationsstrategie

 

Eine wichtige Rolle spielt die Verbesserung der politischen und kulturellen Rahmenbedingungen für erfolgreiche Start-ups, die in Deutschland seit Jahrzehnten gefordert wird. Leider hat es den Verantwortlichen wohl vor allem an kontextueller Intelligenz gefehlt, um die erforderliche Programme umzusetzen.

Ein weiterer Punkt ist die Orchestrierung von Forschungseinrichtungen, Start-ups, Wagniskapitalgebern und etablierten Unternehmen beim Technologietransfer. Das Bundesforschungsministerium arbeitet am Aufbau einer Deutschen Agentur für Transfer und Innovation (DATI), die helfen soll, die relevanten Akteure zu vernetzen. Es ist zu hoffen, dass dabei die Verbesserung der verbindenden Fähigkeiten nicht zu kurz kommt.

Ein dritter Aspekt ist die Zusammenarbeit von Führungskräften und Personalmanagern mit der heterogenen Generation Z und ihren spezifischen Bedürfnissen. Im gegenwärtigen War for Talents rät die 22-jährige Gen Z-Beraterin Yael Meier Unternehmen, die die Angeworbenen dauerhaft binden wollen, neben finanziellen Anreizen auf zwei Instrumente zu setzen: Interne Wertschätzung und externe Wertschätzung aufgrund einer positiven Außenwirkung der Organisation.23

Außerdem ist eine wichtige Frage, wie gut die weltweite Skalierung von Start-ups in unterschiedlichen Wirtschaftsräumen gelingt. Auch hierbei ist neben Kapitalkraft die Verbindung von kontextueller und beziehungsorientierter Intelligenz ein entscheidender Erfolgsfaktor.

 

Authentisches Führungsverhalten bei der Social-Media-Kommunikation

Ein neueres Einsatzgebiet für verbindende Fähigkeiten ist die Social-Media-Kommunikation von Führungskräften. Dabei hat die Bedeutung von Plattformen wie LinkedIn stark zugenommen. Neben der ursprünglichen Vernetzungsfunktion und der Rolle als Werkzeug bei der Rekrutierung und im Vertrieb24 nutzen immer mehr Führungskräfte LinkedIn als personalisiertes Instrument der Unternehmenskommunikation. Das Führungsverhalten in der sozial verbundenen Welt ist jedoch sehr unterschiedlich.25

Die Kölner Agentur Palmer Hargreaves hat die Social-Media-Kommunikation der CEOs deutscher börsennotierter Unternehmen analysiert und anhand mehrerer Kriterien bewertet.26 Spitzenreiter ist Markus Krebber von RWE, der gemeinsam mit seinem Team das Unternehmen in der Energiekrise politisch positioniert hat. Der drittplatzierte Timotheus Höttges von der Deutschen Telekom punktete mit der Breite der Stakeholder, die er erreicht. Eine Herausforderung für die „LinkedIn-Könige“ ist, sowohl die Professionalität einer Kommunikationsabteilung zu nutzen als auch persönlich authentisch zu wirken. Dies gelingt einer Reihe von Connected Leaders immer besser.

 

Fazit

  • Wichtige Grundlagen für die fünfte Entwicklungsstufe eines verbindenden strategischen Managements (Strategie 5.0) sind die Behandlung von Barrieren zwischen Stakeholdern als Wicked Problem, der Megatrend Konnektivität und die Theorie komplexer responsiver Beziehungsprozesse
  • Die Bewältigung von „bösartigen“ Problemen und komplexe responsive Beziehungsprozesse erfordern eine Verbindung von kontextueller und beziehungsorientierter Intelligenz, deren Förderung in der Führungskräfteentwicklung einen höheren Stellenwert bekommen sollte
  • Der Begriff kontextuelle Intelligenz beschreibt die Fähigkeit, das Zusammenwirken relevanter Einflussfaktoren im Umfeld zu verstehen und daraus Schlussfolgerungen abzuleiten. Führungskräfte sollten sich neben dem Heimatmarkt auch intensiver mit dem Kontext und lokalen Interaktionen in anderen Wirtschaftsräumen beschäftigen
  • Beziehungsorientierte Intelligenz basiert auf spezifischen, erlernbaren Fähigkeiten, die in der Führungskräfteentwicklung eine eher untergeordnete Rolle spielen, für den Erfolg von Stakeholder- und Innovationsökosystemen aber von großer Bedeutung sind
  • Eine strategische Führung, die kontextuelle und beziehungsorientierte Intelligenz verbindet, kann einen Beitrag zur Lösung „bösartiger“ Probleme leisten
  • Kontextuelle und beziehungsorientierte Intelligenz sowie deren Verbindung sind wichtige Bausteine einer Strategie 5.0. Die Defizite z.B. im deutschen Start-up-Ökosystem resultieren unter anderem aus einem Mangel an den erforderlichen konnektiven Fähigkeiten
  • Zukunftsorientierte Connected Leaders erkennt man an ihrer hohen Kompetenz bei einer authentischen Social-Media-Kommunikation in einer verbundenen Welt

 

Literatur

[1] Servatius, H.G.: Strategie 5.0 zur Bewältigung der neuen Herausforderungen. In: Competivation Blog, 28.06.2022

[2] Servatius, H.G.: Der Megatrend Konnektivität und seine Treiber. In: Competivation Blog, 26.10.2021

[3] Servatius, H.G.: Personalführung im Zeitalter eines Connective Managements. In: Competivation Blog, 19.01.2021

[4] Camillus, J.L.: Wicked Strategies – How Companies Conquer Complexity and Confound Competitors, Toronto 2016

[5] Stacey, R.: Tools and Techniques of Leadership and Management – Meeting the Challenge of Complexity, London 2012

[6] Servatius, H.G.: Gestaltung von innovativen Stakeholder-Ökosystemen. In: Competivation Blog, 10.01.2023

[7] Servatius, H.G.: Corporate Governance für den strategischen Wandel. In: Competivation Blog, 16.11.2022

[8] Mayo, A., Nohria, N.: Zeitgeist Leadership. In: Harvard Business Review, October 2005

[9] Nohria, N.: Andere Zeiten, andere Führung. In: Manager Magazin, Februar 2023, S. 78-82

[10] Gardner, H.: Frames of Mind – The Theory of Multiple Intelligences, New York, 1983

[11] Duggan, W.: Strategic Intuition – The Creative Spark in Human Achievement, New York 2007

[12] Servatius, H.G.: Wie Manager das Innovationssystem verhaltensökonomisch gestalten – Ein potenzialorientierter Ansatz. In: IM+io – Fachzeitschrift für Innovation, Organisation und Management, Heft 3, September 2015, S. 20-27

[13] Goleman, D.: Emotional Intelligence – Why it Can Matter More Than IQ, New York 1995

[14] Goleman, D., Boyatzis, R., McKee, A.: Emotionale Führung, München 2002

[15] Servatius, H.G.: Mentoring-Programme für die Entwicklung konnektiver Fähigkeiten. In: Competivation Blog, 10.05.2021

[16] Servatius, H.G.: Nachhaltige Entwicklung von Unternehmen mit einer Sustainability Map. In: Competivation Blog, 30.11.2021

[17] Khanna, T.: Contextual Intelligence. In: Harvard Business Review, September 2014

[18] Hubik, F., Tyborski, R.: Scheitern in China. In: Handelsblatt, 22. Februar 2023, S. 1, 4-5

[19] Nonaka, I., Zhu, Z.: Pragmatic Strategy – Eastern Wisdom, Global Success, Cambridge 2012, S. 276 ff., S. 298 ff.

[20] Bandelli, A.C.: Relational Intelligence – The Five Essential Skills You Need to Build Life-Changing Relationships, Murrels Inlet 2022

[21] Servatius, H.G.: Let’s Connect! Personalentwicklung für Stakeholder-Ökosysteme. In: IM+io – Best & Next Practices aus Digitalisierung, Management und Wirtschaft, Heft 1, März 2023, S. 40-43

[22] Spigel, B.: Get Social – Social Media Strategy and Tactics for Leaders, London 2018

[23] Banze, S., Steinharter, H.: Sturm und Drängeln. In: Manager Magazin, März 2023, S. 114-119

[24] Disney, D.: The Ultimate LinkedIn Sales Guide, Chichester 2021

[25] Corrille, M.: Get Social – Social Media Strategy and Tactics for Leaders, London 2018

[26] Beil, J., Müllender, A.: Die LinkedIn-Könige. In: Handelsblatt, 3./4./5. März, S. 52-53

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