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Von erfolgreichen Digital-Unternehmen lernen

Von erfolgreichen Digital-Unternehmen lernen

Sechs der sieben wertvollsten Unternehmen der Welt sind führend bei Technologien der Künstlichen Intelligenz (KI). Daneben gehen beim aktuellen Thema generative KI wichtige Impulse von Start-ups aus. Daher stellt sich die Frage, was etablierte Unternehmen von diesen Digital-Champions lernen können. Die Suche nach Antworten auf diese Frage führt uns zu einem Paradigmenwechsel im strategischen Management, der lange Zeit von etablierten Unternehmen nicht verstanden worden ist. Eng damit verbunden ist ein Wandel der Personalführung und Kultur.

 

In diesem Blogpost erläutere ich einen Ansatz, der zum Erfolg der Digital-Unternehmen beigetragen hat. In den USA nennt man diesen Ansatz „geeky leadership style“.

 

Steigerung des Unternehmenswertes der „großen Sechs“

Zu den sieben wertvollsten Unternehmen der Welt gehören (Stand 27.06.2024) Microsoft, Apple, Nvidia, Alphabet, Amazon und Meta. Diese „großen Sechs“ aus den USA profitieren in unterschiedlichem Maße von dem gegenwärtigen Boom bei der generativen Künstlichen Intelligenz.1 Allein Microsoft ist zurzeit 77 Prozent mehr wert als alle 40 Dax-Unternehmen zusammen.

Der Erfolg der US-Unternehmen basiert aber nicht nur auf ihrer Digitalkompetenz, sondern auch auf Managementinnovationen. Diese Kombination hat zu einem Vorsprung gegenüber etablierten Unternehmen geführt. Während die Kompetenz in den unterschiedlichen Wellen der Digitalisierung offensichtlich ist, sind die neuen Managementansätze in den Erfolgsphasen der Digital-Unternehmen weit weniger transparent.

 

Ursachen der Erfolgsphasen von Digital-Unternehmen

Wir sind daher der Frage nachgegangen, was die europäische Wirtschaft von erfolgreichen Digital-Unternehmen lernen kann. Das Ergebnis ist eine Kausalkette, die mit der Verbindung der ersten Entwicklungsstufe eines markt- und finanzorientierten strategischen Managements mit der zweiten, durch Technologie und Innovation bestimmten Stufe beginnt. Diese Verbindung hat Theorie verändernd gewirkt und zu einem Paradigmenwechsel von einem eher mechanistischen zu einem komplexitätsbewältigenden strategischen Management geführt. Dieser Paradigmenwechsel prägte die Kultur in den Erfolgsphasen von Digital-Unternehmen. In diesen Phasen ist eine innovationsfördernde Personalführung und disruptive Unternehmenskultur entstanden, die für etablierte Unternehmen eine schwer zu überwindende Barriere darstellt.

Lernprozess Innovationsstrategie

Diese drei Ursachen möchte ich in den folgenden Abschnitten erläutern. Ein besseres Verständnis der Ursachen kann dazu beitragen, dass etablierten Unternehmen der digitale Wandel besser gelingt. Eine Grundvoraussetzung hierfür ist allerdings die Bereitschaft, zu lernen und traditionelle kulturelle Normen zu hinterfragen. Den Ausgangspunkt bildet eine systemorientierte Verbindung der Strategie 1.0 und der Strategie 2.0.

 

Systemorientierte Verbindung von Strategie 1.0 und 2.0

Seit Anfang der 1980er Jahre hat eine Erweiterung des traditionellen markt- und finanzorientierten strategischen Managements (Strategie 1.0) um eine technologie- und innovationsorientierte zweite Entwicklungsstufe stattgefunden (Strategie 2.0).2 Diese Erweiterung haben erfolgreichen Digital-Unternehmen zu ihrem Vorteil genutzt. Deren Erfolg basiert zum einen auf ihrem Vorsprung bei digitalen Technologien. Mindestens ebenso wichtig ist die systemorientierte Integration eines analyseorientierten strategischen Handelns und einer innovationsfördernden Kultur. Auf diese Weise ist es ihnen gelungen, einen neuen integrierten Ansatz zur Gestaltung von Innovationsystemen zu realisieren.3 Dieser Ansatz ist nicht auf das eigene Unternehmen beschränkt, sondern bezieht Start-up-Ökosysteme mit ein.

In erfolgreichen Start-up-Ökosystemen arbeiten vier Sektoren partnerschaftlich zusammen. Die Politik fördert aktiv die Bildung, neue Technologien und Innovationen. Der Wissenschaft gelingt die erfolgreiche Ausgründung von Start-ups. Wagniskapitalgeber und ein Corporate Venture Management finanzieren nicht nur die Gründung, sondern auch die Skalierung der Start-ups. Und auch die Gesellschaft spielt eine wichtige Rolle, indem sie ein positives Innovationsklima und attraktive Rahmenbedingungen schafft.

Lernprozess Innovationsstrategie

Dieses Zusammenspiel hat mit mehreren Jahrzehnten Vorsprung gegenüber Europa zur Erfolgsgeschichte des Silicon Valleys geführt.4 Das Beispiel zeigt jedoch auch das Spannungsverhältnis zwischen dem gegenwärtigen KI-Boom und den explodierenden Lebenshaltungskosten an der US-amerikanischen Westküste.

Die Entwicklung von Start-up-Ökosystemen wurde durch die in den 1960er Jahren entstandene Design-Wissenschaft5 und Methoden wie dem Design Thinking befruchtet.6 Das Design Thinking unterstützt den interdisziplinären Lernprozess zur Gestaltung von digitalen Geschäftsmodellen. Dabei wirken innovative Technologien als Ermöglicher von neuen Formen der Problemlösung und Befriedigung von Kundenbedürfnissen. Das bereits in den 1940er Jahren von dem Psychologie-Professor Kurt Lewin in den USA entwickelte Action Research7 liefert die theoretische Basis für Lernschleifen, die von Hypothesen ausgehen, etwas gestalten, das man bei Kunden testen kann und deren Ergebnisse zu möglichen Richtungsänderungen führen. Anfang der 1990er Jahren sind auf dieser Grundlage agile Methoden zur Softwareentwicklung wie Scrum entstanden.8 So sind aus Start-ups, die diese Konzepte nutzen, die wertvollsten Unternehmen der Welt geworden.

Das Beispiel Amazon zeigt, dass diese Unternehmen auch kritische Phasen meistern mussten. Nach dem Scheitern eines Projekts zur Verbesserung der Zusammenarbeit von Funktionsbereichen erkannte Jeff Bezos die Notwendigkeit eines Richtungswechsels. Er führte das „Zwei-Pizza-Prinzip“ für agile Teams ein und setzte die Konzentration von Projektleitern auf ein einzelnes Projekt durch (Single-Threaded Leaders). Damit agile Teams möglichst selbständig arbeiten können, war die Entwicklung einer modularen IT-Architektur notwendig. Diese interne Initiative bildete den Ausgangspunkt für die Gründung von Amazon Web Services (AWS), dem heutigen Weltmarktführer im Cloud-Geschäft.9

Die theoretische Grundlage für derartige Aktivitäten lieferte ein Paradigmenwechsel im strategischen Management, der sich in den 1990er Jahren vollzogen hat. Ich möchte kurz schildern, wie ich diese Zeit erlebt habe.

 

Paradigmenwechsel von mechanistisch zu komplexitätsbewältigend

Nach rund einem Jahrzehnt in der Strategieberatung hatte ich damals den Eindruck, dass die vorhandenen, relativ mechanistische Strategiekonzepte nicht ausreichend sind, um die Komplexität von Innovations- und Nachhaltigkeitsthemen zu bewältigen. Auf der Suche nach besseren Lösungsansätzen bin ich auf die Evolutions- und Komplexitätstheorien gestoßen und habe über den notwendig erscheinenden Paradigmenwechsel im strategischen Management 1991 an der Universität Stuttgart extern habilitiert.10

Lernprozess Innovationsstrategie

Ein komplexitätsbewältigendes strategisches Management basiert auf drei theoretischen Grundlagen, die sich wechselseitig beeinflusst haben. Als erstes sind in verschiedenen Disziplinen Evolutionstheorien entstanden, Sie betrachten die dynamische Abfolge von Ungleichgewichten als Balance zwischen Chaos und Ordnung, dessen Ergebnis von den Anfangsbedingungen abhängt.11 Wichtige Impulse gingen dann von dem 1984 in den USA gegründeten Santa Fe Institute und der dort entwickelten Theorie komplexer adaptiver Systeme aus. Diese beschäftigt sich mit der Schaffung von geeigneten Rahmenbedingungen für eine stärker selbstorganisierte Interaktion kompetenter Akteure am „Chaosrand“, die auf einfachen Regeln basiert.12 Einen Beitrag zur Anwendung in Organisationen leistet die Theorie komplexer interaktiver Beziehungsprozesse. Im Mittelpunkt stehen hierbei lokale, nicht lineare Interaktionen von Akteuren, aus deren Verlauf sich Muster ergeben, die schwer prognostizierbar sind.13

Diese relativ abstrakt klingenden Gedanken waren in den 1990er Jahren etablierten Unternehmen schwer zu vermitteln. Daher sind auch die großen Beratungsunternehmen nicht auf diesen Zug aufgesprungen. Dennoch haben die Theorien ihren Weg in die Praxis gefunden. Dieser Weg führte von der Stanford University zu Google. Mit der fortschreitenden Digitalisierung hat dann die Bedeutung der Evolutions- und Komplexitätstheorien stark zugenommen.

1995 erschien das Buch Competing on the Edge der späteren Google-Managerin Shona Brown und der Stanford-Professorin Kathleen Eisenhardt, die versuchen die Komplexitätstheorien auf das strategische Management zu übertragen.14 Ihre Handlungsempfehlungen gliedern sie in die Felder Chaosrand, Zeit-Harmonie und zeitliche Taktung. Im Mittelpunkt steht dabei eine Komplexitätsbewältigung durch die Suche nach der richtigen Balance. Im Feld Chaosrand lauten die Handlungsempfehlungen:

  • Mit professioneller Improvisation die Mitte zwischen zu viel Struktur und zu viel Durcheinander suchen und
  • durch gemeinsame Anpassung Synergien zwischen Geschäften nutzen, um so die Balance zwischen zu viel Kooperation und zu viel Egoismus zu finden.

Die Empfehlungen im Feld Zeit-Harmonie sind:

  • Durch gezielte Erneuerung Vorteile aus der Zukunft und der Vergangenheit ableiten und
  • Experimente durchführen, um mit Erfahrung heute das Morgen zu gestalten.

Die letzte Empfehlung betrifft die zeitliche Taktung. Sie lautet:

  • Das Tempo vorgeben, um so Übergänge zu synchronisieren und den richtigen eigenen Rhythmus zu finden.

Diese Handlungsempfehlungen haben die Personalführung und Kultur von Google und anderen Digital-Unternehmen geprägt.

 

Innovationsfördernde Personalführung und disruptive Unternehmenskultur

In Digital-Unternehmen hat sich ein spezifischer Führungsstil entwickelt, den man in den USA als „geeky leadership style“ bezeichnet. Der Begriff Geek (oder deutsch Geck) erlebt dabei einen Bedeutungswandel zum Positiven. Diese Form der Personalführung ist kulturprägend. Charakteristisch hierfür sind die folgenden vier kulturellen Normen:15

  • Eine spezifische wissenschaftliche Vorgehensweise (Science)
  • persönliche Verantwortung (Ownership)
  • eine hohe Geschwindigkeit von Iterationen (Speed) und
  • Offenheit (Openness).

Der disruptive Charakter einer solchen Kultur liegt darin, dass sie für etablierte Unternehmen aufgrund von Verhaltensbarrieren schwer zu entwickeln ist. Dies möchte ich kurz erläutern.

Lernprozess Innovationsstrategie

Die auf dem Action Learning und der Design-Theorie basierende wissenschaftliche Vorgehensweise ist auf ein datenbasiertes, lernendes Gestalten gerichtet. Diese Erkenntnisse haben Digital-Unternehmen wie Google frühzeitig genutzt und Infrastrukturen für das Testen von Hypothesen entwickelt. Die Testergebnisse bilden dann den Ausgangsunkt für eine intensive, faktenorientierte Argumentation der Akteure. Demgegenüber beruhen Entscheidungen in etablierten Unternehmen stärker auf den Überzeugungen und der Macht von Führungskräften sowie auf den Meinungen von Experten. Der kulturelle Wandel zu einem stärker wissenschaftlich orientierten Vorgehen kann in etablierten Unternehmen daher Widerstand auslösen, weil die Verantwortlichen einen Bedeutungsverlust befürchten. Die Personalentwicklung an Hochschulen und in der Praxis sollte hier ein bewusstes Gegengewicht schaffen.

Charakteristisch für digitale Start-ups ist eine persönliche Verantwortung der Führungskräfte mit einem höheren Grad an Autonomie, einer Ermächtigung agiler Teams und weniger Koordinationsaufwand. Etablierte Unternehmen kämpfen hingegen oft mit einer zunehmenden Bürokratisierung, bei der viele mitreden dürfen und ihre Macht demonstrieren, indem sie ein Veto einlegen. Auch Microsoft stand vor der Herausforderung, eine Ownership-Kultur zurückzugewinnen, was unter der Führung von Satya Nadella gelungen ist. In der Öffentlichkeit viel diskutiert wird der Versuch des Unternehmens Bayer, Bürokratie mit Hilfe des Humanocracy-Konzepts abzubauen, das der Management-Guru Gary Hamel entwickelt hat.16 Es bleibt abzuwarten, wie erfolgreich dieser Versuch ist.

Eine Wurzel des „geeky leadership styles“ ist das 2001 geschriebene agile Manifest, das die Geschwindigkeit von schnellen Iterationen betont. Etablierte Hardware-orientierte Unternehmen tun sich häufig schwer, dieses bei der Softwareentwicklung entstandene Vorgehen mit ihrem existierenden Produktinnovationsprozess zu verknüpfen. Angesichts der zunehmenden Bedeutung von Software z.B. in der Automobilindustrie werden hybride Ansätze immer wichtiger, die die vorhandenen Kompetenzen mit Digitalkompetenz verbinden. Ein Erfolgsindikator hierfür ist, dass die Unternehmen ihre gesetzten Zeitziele erreichen und nicht Opfer des 90-Prozent-Syndroms werden, bei dem die Akteure zu spät merken, dass sie ihre Ziele verfehlen.

Charakteristika der kulturellen Norm Offenheit sind das Teilen von Informationen, Empfänglichkeit für andere Argumente, die Bereitschaft, Situationen neu zu bewerten und die eigene Richtung zu ändern. Das Gegenteil von Offenheit sind weit verbreitete defensive Verhaltensmuster, die der Harvard-Professor Chris Argyris bereits seit den 1980er Jahren als Kennzeichen etablierter Unternehmen beschrieben hat.17 Die negative Konsequenz ist oft, dass die Gemeinschaft diejenigen bestraft, die gegen herrschende Normen verstoßen. Eine Extremform defensiver Verhaltensmuster ist die stillschweigende Duldung unethischer oder strafbarer Aktivitäten. Hingegen erkennt man eine durch Offenheit geprägte Kultur z.B. daran, dass junge Mitarbeitende ihrem Chef in einem internen Meeting offen widersprechen dürfen, ohne mit Sanktionen rechnen zu müssen.

Dieses Beispiel führt uns zu einem Ansatz, wie etablierte Unternehmen die kulturelle Distanz zur digitalen Welt verringern können.

 

Kulturelle Normen anpassen und vorleben

Führungskräfte etablierter Unternehmen haben die Aufgabe, einen individuellen Zugang zu den kulturellen Normen erfolgreicher Digital-Unternehmen zu finden. Dabei kann die Kenntnis der skizzierten theoretischen Grundlagen hilfreich sein. Der Erfolg in der digitalen Welt bedeutet jedoch nicht, dass diese Normen 1:1 auf ein etabliertes Unternehmen übertragbar sind. Sie bedürfen einer Anpassung an die spezifische Situation und an die Rahmenbedingungen des jeweiligen Unternehmens. Nachdem bezüglich dieser situativen Anpassung ein Konsens besteht, kommt es darauf an, dass die Führungskräfte veränderte kulturelle Normen vorleben. Eine wichtige Rolle spielt dann eine entsprechende Personalentwicklung und Beförderungspolitik. Daher ist die Vorstellung von einer schnellen, umfassenden digitalen Transformation unrealistisch. Eine erfolgreiche digitale Neuausrichtung in etablierten Unternehmen verläuft eher als spezifischer, längerfristiger Prozess.18

 

Zusammenarbeit mit Start-ups als eine zu wenig genutzte Chance

Eine Möglichkeit für etablierte Organisationen, von erfolgreichen Digital-Unternehmen zu lernen, besteht in einer verstärkten Zusammenarbeit mit Start-ups. Leider wird diese Chance zu wenig genutzt. So kommt eine Studie des Deutschen Start-up-Monitors zu dem Ergebnis, dass die Kooperation von Konzernen und Mittelständlern mit jungen Unternehmen von 2020 bis 2023 um zehn Prozent zurückgegangen ist. Die Chefin des Start-up-Verbands Verena Pausder sieht in dieser Rückwärtsentwicklung ein Alarmsignal und fördert eine Neuauflage der Partnerkultur.19 Gerade das aktuelle Thema der generativen Künstlichen Intelligenz böte hierzu vielfältige Ansätze. Zwar gibt es eine Reihe von Initiativen, wie die seit 2018 in Ostwestfalen stattfindende Konferenz „Hinterland of Things“, die verschiedenen Akteure vernetzt. Aber insgesamt existiert bei der Gestaltung von Start-up-Ökosystemen noch ein erhebliches Ausbaupotenzial.

 

Fazit

  • Viele der wertvollsten Unternehmen der Welt haben sich in relativ kurzer Zeit von Start-ups zu Digital-Champions entwickelt
  • Zur Beantwortung der Frage, was etablierte Unternehmen hieraus lernen können, haben wir die Entwicklung des strategischen Managements analysiert
  • Im Unterschied zu etablierten Unternehmen haben Digital-Unternehmen in ihren Erfolgsphasen einen Paradigmenwechsel im strategischen Management von mechanistisch zu komplexitätsbewältigend aktiv vorangetrieben
  • Eine wichtige Rolle hat dabei ein Wandel der Personalführung und Kultur gespielt
  • Führungskräfte in etablierte Unternehmen stehen vor der Aufgabe, situativ angepasste kulturelle Normen vorzuleben
  • Dabei sollten sie stärker die Möglichkeit nutzen, mit Start-ups zusammenzuarbeiten

 

Literatur

[1] Sommer, U., KI entfacht Kursfeuerwerk. In: Handelsblatt, 27. Dezember 2023, S.1, 4, 6

[2] Servatius, H.G., Evolution des strategischen Managements. In: Competivation Blog, 28.06.2024

[3] Servatius, H.G., Gestaltung des Innovationssystems von Unternehmen. In: Servatius, H.G., Piller, F.T. (Hrsg.), Der Innovationsmanager – Wertsteigerung durch ein ganzheitliches Innovationsmanagement, Symposion 2014, S. 21-64

[4] Keese, C., Silicon Valley – Was aus dem mächtigsten Tal der Welt auf uns zukommt, Knauer 2014

[5] Simon, H.A., The Sciences of the Artificial, 2.Aufl., MIT Press 1981 (1. Aufl.1969)

[6] Kelly T., Kelly, D., Creative Confidence – Unleashing the Creative Potential within us all, William Collins 2013

[7] Marrow, A.J., Kurt Lewin – Leben und Werk, Ernst Klett 1977

[8] Sutherland, J.J., The Scrum Fieldbook – A Master Class on Accelerating Perfomance, Getting Results, and Defining the Future, Currency 2019

[9] Bryar, C., Carr, B., Working Backwards – Insights, Stories, and Secrets from Inside Amazon, Macmillan 2021

[10] Servatius, H.G., Vom strategischen Management zur evolutionären Führung – Auf dem Wege zu einem ganzheitlichen Denken und Handeln, Poeschel 1991

[11] Beinhocker, E.D., Die Entstehung des Wohlstands – Wie Evolution die Wirtschaft antreibt, mi-Fachverlag 2007

[12] Lewin, R., Die Komplexitätstheorie – Wissenschaft nach der Chaos-Forschung, Hoffmann und Campe 1993

[13] Stacey R., Tools and Techniques of Leadership and Management – Meeting the Challenge of Complexity, Routledge 2012

[14] Brown, S.L., Eisenhardt, K.M., Competing on the Edge – Strategy as Structured Chaos, Harvard Business Review Press 1998

[15] McAfee, A., The Geek Way – The Radical Mindset That Drives Extraordinary Results, Macmillan 2023

[16] Hamel, G., Zanini, M., Humanocracy – Creating Organizations as Amazing as the People Inside Them, Harvard Business Review Press 2020

[17] Argyris, C., Overcoming Organizational Defences – Facilitating Organizational Learning, Allyn and Bacon 1990

[18] Servatius, HG., Dreifache strategische Neuausrichtung. In: Competivation Blog, 07.06.2024

[19] Müller, A., Schimroszik, N., Mittelstand rückt von Start-ups ab. In: Handelsblatt, 13. Juni 2024, S.22

Auf dem Weg zu einem neuen wirtschaftspolitischen Narrativ

Auf dem Weg zu einem neuen wirtschaftspolitischen Narrativ

Angesichts einer Vielzahl von Herausforderungen suchen die Wähler und Wählerinnen nach einer neuen sinnstiftenden Erzählung der Wirtschaftspolitik. Zwischen den Parteien gibt es einen zunehmenden Wettbewerb um ein erfolgreiches Narrativ. Ein wichtiges Thema bei der gestrigen Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen war: Klimaschutz und Industrie in Einklang bringen.

 

In unserem Blogpost stellen wir ein mögliches Narrativ zur Diskussion

 

Von einzelnen Maßnahmen zu einer integrierenden Erzählung

Mit ihrem 2020 erschienenen Buch Neustaat haben CDU/CSU-Politiker und Experten einen beeindruckenden Maßnahmenkatalog für eine Neuorientierung der Wirtschaftspolitik vorgelegt.1 Die 103 Vorschläge bedürfen jedoch der Ergänzung um eine integrierende Erzählung als Klammerfunktion für die einzelnen Maßnahmen.

Unter einem solchen neuen Narrativ der Wirtschaftspolitik verstehen wir eine sinnstiftende Erzählung, die Werte und Emotionen transportiert.2 Das Narrativ ist ein Deutungsangebot der Politik zur Bewältigung von Herausforderungen und Krisen.

Aufgrund der Herausforderungen der Digitalisierung und des Klimawandels sowie der durch die Corona-Pandemie und den Krieg in der Ukraine ausgelösten Krisen arbeiten die politischen Parteien in Europa an einem neuen Narrativ für die Wirtschaftspolitik.

 

Zwei Ebenen des neuen Narrativs

Gegenwärtig zeichnet sich die Entstehung eines solchen neuen Narrativs der Wirtschaftspolitik mit zwei komplementären Ebenen ab. Auf der ersten Ebene steht eine konnektive Wirtschaftspolitik, die verschiedene Politikfelder, wie die Innovations-, Nachhaltigkeits-, Digital- und Geopolitik verbindet. Das damit einhergehende Nutzenversprechen für den Wähler sind Problemlösungen, die traditionelle Ressortgrenzen überwinden.3

Auf der zweiten Ebene erfolgen eine gemeinsame Gestaltung von Innovationsfeldern und der Abbau von Innovationsbarrieren. Dies erfordert eine bessere Zusammenarbeit von Stakeholdern aus Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft. Das Weltwirtschaftsforum hat für dieses gemeinsame Design von Stakeholder-Systemen den Begriff Governance 4.0 geprägt.4

 

Lernprozess Innovationsstrategie

 

Das Narrativ einer verbindenden Wirtschaftspolitik steht in Konkurrenz zu anderen Erzählungen, wie z.B. der von einer Mission Economy. Dieses Konzept der Wirtschaftswissenschaftlerin Mariana Mazzuccato orientiert sich am Erfolg des US-amerikanischen Mondflugprogramms.5 Im Mittelpunkt steht die Vorstellung von einer aktiveren Rolle des Staates im Rahmen der Veränderung des marktwirtschaftlichen Systems. Wie genau die neue Zusammenarbeit von Politik und Wirtschaft in der Mission Economy aussehen soll, bleibt jedoch unklar.

Im Folgenden skizzieren wir die beiden Ebenen einer konnektiven Wirtschaftspolitik, die einen Gegenentwurf zur Mission Economy darstellt.

 

Eine Wirtschaftspolitik, die verschiedene Politikfelder verbindet

Ein Innovationsfeld, bei dem die Notwendigkeit einer verbindenden Wirtschaftspolitik deutlich wird, ist die Künstliche Intelligenz. KI wird die Spielregeln des Wettbewerbs von Unternehmen und Staaten weiter verändern.6 In Deutschland bedarf die 2020 fortgeschriebene KI-Strategie der Bundesregierung einer Überarbeitung und Übersetzung in wirksamere Programme.7 Hierfür sind geeignete Formate zur Einbeziehung der Stakeholder zu finden.

Aufgabe einer verbindenden Wirtschaftspolitik wäre es, die Rahmenbedingungen für einen Aufholprozess Europas und seiner Regionen zu verbessern. Dies erfordert eine KI-Strategie, die verschiedene Politikfelder orchestriert. Aufgabe der Bildungs- und Forschungspolitik wäre es, sowohl die Aus- und Weiterbildung zu erneuern als auch die Forschungsförderung gezielter auf den Technologietransfer auszurichten. Eine Digitalpolitik müsste an der öffentlichen Infrastruktur und Verwaltung ansetzen. In den Bereich der Nachhaltigkeitspolitik fällt die Aufgabe, KI-Anwendungen zur Bewältigung des Klimawandels voranzutreiben und den von KI ausgehenden Abbau von Arbeitsplätzen sozialverträglich zu gestalten. Dies alles erfolgt vor dem Hintergrund veränderter geopolitischer Bedingungen, bei denen Europa vor der Herausforderung steht, seine technologische Souveränität zurückzugewinnen und eigene Wertvorstellungen zu verteidigen.

 

Lernprozess Innovationsstrategie

 

Eine solche Verbindung von Politikfeldern erleichtert die Zusammenarbeit von Stakeholdern aus Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft in Innovationsfeldern wie der Künstlichen Intelligenz.

 

Zusammenarbeit von Stakeholdern in Innovationsfeldern

In Deutschland weitgehend unbemerkt ist Ende der 1950er Jahre an der Stanford University im Silicon Valley die agile Innovationsmethode des Design Thinking entstanden.8 Der Nutzen dieser Methode liegt unter anderem in einer Verbesserung der interdisziplinaren Zusammenarbeit ausgehend von einem gemeinsamen Prozessverständnis. In erfolgreichen Digitalunternehmen und Start-ups ist diese Methode seit langem Standard. Manager etablierter Unternehmen, die Design Thinking einführen wollen, sehen sich jedoch häufig in der Rolle von Missionaren, die auf das traditionelle Mindset ihrer Führungskraft treffen. Die Erfahrungen beim Design Thinking liefern reichlich Material für ein gemeinsames Narrativ von Stakeholdern aus verschiedenen Sektoren.

Ein ähnliches Dilemma wie beim Innovationsmanagement besteht nämlich bei der Zusammenarbeit dieser Bezugsgruppen aus Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft, die gemeinsam Innovationsfelder vorantreiben und Innovationsbarrieren abbauen wollen. Es fehlt an einer gemeinsamen Vorgehensmethode und – vielleicht noch wichtiger – an einer verbindenden Grundhaltung als Voraussetzung für erfolgreiche Kooperationen.

 

Lernprozess Innovationsstrategie

 

Zur Überwindung dieser Defizite müssten sich die Akteure aufeinander zubewegen. Wichtig wäre es auch, bei Programmen gemeinsame Ziele und Ergebnisse zu formulieren.9 In innovativen Unternehmen hat sich hierbei die Objectives and Key Results (OKR-) Methode bewährt. Die Schaffung einer neuen Koordinationseinheit wie der Deutschen Agentur für Transfer und Innovation (DATI) mag ein weiterer Schritt in diese Richtung sein, wenn es gelingt Partikularinteressen zu überwinden.10 Hierbei könnte ein gemeinsames Narrativ eine wichtige Rolle spielen.

 

Ein entstehendes Narrativ als Lernprozess

Die verantwortlichen Akteure sollten das entstehende neue Narrativ einer verbindenden Wirtschaftspolitik als Lernprozess begreifen. Interessante Anregungen können dabei von atypischen Erfolgsgeschichten wie der des Impfstoffpioniers BioNTech kommen.11 Darüber hinaus wäre es notwendig, dieses Narrativ auszugestalten und in gemeinsamen Projekten zu konkretisieren. Diese Initiativen können auf regionaler, nationaler oder EU-Ebene starten. Wichtig wäre, aus den gewonnenen Erfahrungen die richtigen Schlussfolgerungen abzuleiten. Ein solcher Prozess hat eher evolutionären als transformativen Charakter, auch wenn das Ergebnis ein grundlegender Wandel sein kann.12 In unserer praktischen Arbeit unterstützen wir Akteure auf diesem Weg und freuen uns auf Ihr Feedback.

 

Fazit

  • Aktuelle Herausforderungen und Krisen haben die Suche nach einem neuen wirtschaftspolitischen Narrativ verstärkt
  • Ein Gegenentwurf zum Konzept der Mission Economy ist die konnektive Wirtschaftspolitik
  • Im Mittelpunkt steht dabei eine Verbesserung der Verbindungen zwischen Politikfeldern und Stakeholdern
  • Ein Beispiel für die Notwendigkeit einer solchen sinnstiftenden Erzählung liefert das Innovationsfeld Künstliche Intelligenz

 

Literatur

[1] Heilmann, T., Schön, N. (Hrsg.), Neustaat – Politik und Staat müssen sich ändern, 2. Aufl., München 2020

[2] Jarzebski, S.: Erzählte Politik – Politische Narrative im Bundestagswahlkampf, Wiesbaden 2020

[3] Delhaes, D., Die Bundesregierung rangelt bei der Digitalpolitik weiter um Kompetenzen. In: Handelsblatt, 25.03.2022

[4] Schwab, K., Die Vision einer Governance 4.0, In: Handelsblatt, 21./22./23. Januar 2022, S. 64

[5] Mazzucato, M., Mission Economy – A Moonshot Guide to Changing Capitalism, Dublin 2021

[6] Kaufmann, T., Servatius, H.G., Das Internet der Dinge und Künstliche Intelligenz als Game Changer – Wege zu einem Management 4.0 und einer digitalen Architektur, Wiesbaden 2020

[7] Die Bundesregierung (Hrsg.), Nationale Strategie für Künstliche Intelligenz – AI Made in Germany, Fortschreibung 2020

[8] Arnold, J.E., Creative Engineering – Promoting Innovation by Thinking Differently, Stanford 1959

[9] Doerr, J., Speed & Scale – An Action Plan for Solving Our Climate Crisis Now, New York 2021

[10] DIHK (Hrsg.), DIHK-Impulspapier zur Deutschen Agentur für Transfer und Innovation (DATI), 10.03.2022

[11] Miller, J., Sahin, A., Türeci, Ö., Projekt Lightspeed – Der Weg zum BioNTech-Impfstoff und zu einer Medizin von morgen, Hamburg 2021, S. 177 ff.

[12] Servatius, H.G., Warum der digitale Wandel evolutionär verläuft. In: Competivation Blog, 09.11.2021

Warum der digitale Wandel evolutionär verläuft

Warum der digitale Wandel evolutionär verläuft

Der Versuch, etablierte Organisationen digital zu transformieren, führt oft zu enttäuschten Erwartungen. Eine digitale Evolution ist Erfolg versprechender.

 

In diesem Blogpost stellen wir das grundlegende Verständnis, wie sich der digitale Wandel vollzieht, auf den Prüfstand.

 

Defizite bei der Digitalisierung

Defizite bei der Digitalisierung haben in unserem Land viele Ursachen. Offensichtlich fehlen auf der politischen Ebene sowohl ein Konzept zur Koordination der verschiedenen Ministerien als auch ein Ansatz zur Umsetzung notwendiger Programme.1 Aber auch beim Technologietransfer von der Grundlagenforschung zu praktischen Anwendungen klaffen Anspruch und Wirklichkeit weit auseinander. So hat z.B. das mit vielen Millionen Euro geförderte Deutsche Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI) den Trend zum maschinellen Lernen verpasst.2

Neben diesen Versäumnissen geht aber auch das grundlegende Verständnis des digitalen Wandels möglicherweise von falschen Annahmen aus. Eine solche Fehleinschätzung ist die Vorstellung vieler Beobachter, die Digitalisierung verlaufe in Form einer Transformation.

 

Digitale Transformation oder Evolution?

Ohne Zweifel gehört die Digitalisierung zu den großen Herausforderungen für Organisationen. Es mehren sich jedoch die Stimmen von Praktikern, die meinen, der weit verbreitete Begriff digitale Transformation sei inzwischen zu einem Schlagwort mit unklarer Bedeutung geworden, das in die Irre führe und vielleicht sogar den Wandel gefährde.3 Immerhin spreche man seit rund fünfzig Jahren von Digitalisierung und ein Ende dieses Prozesses ist nicht absehbar.

Außerdem passe der Begriff digitale Evolution (oder Entwicklung) besser, da offene Systeme ständig in Bewegung sind. Hieraus resultiere die Bedeutung der Fähigkeit umzudenken, die den Erfolg von Digitalunternehmen ausmache. In einer Reihe von Branchen wie z.B. dem Handel komme es auch nicht zu einem vollständigen Wandel vom Analog- zum Digitalgeschäft, wie der Begriff Transformation suggeriere, sondern zu einer spezifischen Verbindung von analogen und digitalen Elementen.

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, dass digitale Transformationsprogramme oft nicht die mit diesem Begriff verbundenen hohen Erwartungen erfüllen. Dennoch hält sich die Vorstellung von einer umfassenden Transformation etablierter Organisationen ausgehend von digitalen Technologien hartnäckig.4

Häufig spricht man auch von einer notwendigen digitalen Transformation, wenn, wie z.B. in der öffentlichen Verwaltung, über Jahrzehnte versäumt wurde, notwendige Maßnahmen umzusetzen. In diesem Kontext hat der Begriff eine reaktive Komponente, die auf Führungsdefizite hindeutet.

Besorgniserregend ist darüber hinaus, dass der Begriff einer digitalen und auch ökologischen Transformation aller Lebensbereiche gerne von politischen Gruppierungen benutzt wird, die eigentlich einen umfassenden Systemwechsel mit radikalen Veränderungen anstreben. Transformation ist hier ein Tarnbegriff, der in Wahrheit eine politische Machtverschiebung meint, dies aber nicht offen ausspricht.

 

Gemeinsamkeit und Unterschiede

Beim Thema Digitalisierung hat die Managementlehre den Transformationsbegriff relativ unkritisch aus der Politikwissenschaft übernommen.5 Daher gehen wir der Frage nach, was mit Transformation und was mit Evolution gemeint ist. Hieraus ergeben sich die Unterschiede zwischen einer digitalen Transformation und einer digitalen Evolution.

Eine Gemeinsamkeit beider Konzepte ist die Anwendung digitaler Querschnittstechnologien, deren Ursprünge z.B. bei der Künstlichen Intelligenz in den 1950er Jahren und beim Internet der Dinge in den 1990er Jahren liegen.6 Insbesondere die Konvergenz dieser Technologiefelder zu einer Artificial Intelligence of Things (AIoT) hat einen starken Einfluss (Impact) auf Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. So sind digitale Technologien zu einer wichtigen Quelle für Wettbewerbsvorteile von Unternehmen und den Wohlstand von Staaten geworden.

Der Begriff Transformation beschreibt die grundlegende Veränderung z.B. eines politischen Systems oder des Geschäftsmodells eines Unternehmens. Eng mit diesem Begriff verknüpft ist die Vorstellung des Übergangs (Transition) von einem (Gleichgewichts-)Zustand zu einem anderen. Oft geht dies einher mit einer negativen Bewertung des alten und einer positiven Bewertung des neuen Zustands. Ein Beispiel ist die Unterscheidung zwischen der Old Economy und einer New Economy um die Jahrtausendwende. Eine solche negative Bewertung des alten Zustands führt nicht selten zum Widerstand der betroffenen Akteure und der Entstehung von Blockaden z.B. von Teilen der etablierten Organisation gegenüber neuen Digitaleinheiten.

Interessant ist auch, dass Unternehmen, deren Geschäftsmodell von einer digitalen Disruption bedroht ist, wie z.B. in der Tourismusbranche oder im Handel, häufig nicht mit einer umfassenden Transformation reagieren, sondern mit einer hybriden Strategie, die die Fortsetzung des analogen Geschäfts mit einer schrittweisen Digitalisierung kombiniert. So hat der Lebensmittelhändler Rewe vor knapp sieben Jahren das damalige Start-up Commercetools akquiriert, das Software für den elektronischen Handel entwickelt und heute sehr erfolgreich ist. Rewe-Chef Lionel Souque ist der Meinung, der Tanker Rewe brauche viele kleine Schnellboote. die ungefähr in die gleiche Richtung fahren, denen man aber ansonsten Freiheiten lässt.5 Diese Strategie lässt sich eher als digitale Evolution beschreiben.

 

Lernprozess Innovationsstrategie

 

Als Evolution bezeichnet man allgemein die schrittweise Weiterentwicklung z.B. von biologischen, technischen, wirtschaftlichen oder sozialen Systemen. Evolution ermöglicht eine Bewältigung von Komplexität durch geeignete Rahmenbedingungen und eine stärker selbstorganisierte Zusammenarbeit der Akteure. Im Mittelpunkt stehen gemeinsame ergebnisoffene Lernprozesse ausgehend von Hypothesen, die getestet werden. Eine zentrale Erkenntnis der neueren Komplexitätstheorie ist, dass dieses Erfolgsmuster nicht auf die Evolution von biologischen Systemen beschränkt ist, sondern auch für Organisationen und Volkswirtschaften gilt.8 Dabei ist wichtig, dass ein evolutionärer Ansatz die Verbindungen (Konnektivität) zwischen Systemen, ihren Bausteinen und den relevanten Akteuren (Stakeholdern) fördert.9 Deshalb erscheint das Konzept einer Evolution oder Koevolution besser als ein transformativer Ansatz für die Digitalisierung von politischen und wirtschaftlichen Systemen geeignet.

 

Disruptive Geschäftsmodelle und eine neue Phase der Produktivitätssteigerung

Eine solche digitale Evolution von Unternehmen vollzieht sich gegenwärtig in zwei wichtigen Handlungsfeldern, die miteinander verbunden sind. Der Fokus des ersten Handlungsfeldes, das mit dem Online-Handel (E-Commerce) Mitte der 1990er Jahre begonnen hat, liegt bei der Disruption durch innovative Geschäftsmodelle und dort insbesondere bei den Bausteinen Wertversprechen, Kundenkanäle und Art der Gewinnerzielung.10

Das zweite Handlungsfeld startete als Weiterentwicklung des Business Process Reengineering Ende der 1990er Jahre mit dem Process Mining. Der 2011 geprägte Begriff Industrie 4.0 betonte die Bedeutung von Anwendungen in der Produktion. Aus einer Verknüpfung dieser Ansätze mit der AIoT-Technologie Robotic Process Automation (RPA) hat sich eine neue Phase der Produktivitätssteigerung entwickelt.11 Das Münchner Start-up-Unternehmen Celonis bezeichnet dies als Execution Management System (EMS), SAP spricht von Business Process Intelligence (BPI). Parallel zu dieser Digitalisierung der Prozesse entwickelten sich die Anbieter von Low-Code-Software weiter. So wurde z.B. das israelische Start-up-Unternehmen Monday.com bei seinem Börsengang in den USA mit sieben Milliarden Dollar bewertet.12

 

 

Die Disruption durch innovative Geschäftsmodelle geht vor allem von Start-ups und den großen Tech-Konzernen aus. Da die angegriffenen etablierten Unternehmen Ausmaß und Geschwindigkeit der Disruption schwer einschätzen können, reagieren sie häufig mit dem Aufbau von Corporate Digital Units, die in der Regel einen kulturellen Abstand zur Basisorganisation haben.13 Viele Unternehmen befinden sich gegenwärtig in dieser Phase, Andere wie z.B. Daimler haben sich bereits wieder von einem solchen Ansatz verabschiedet und setzen auf die innovative Weiterentwicklung des Kerngeschäfts.14

 

Die digitale Architektur als Barriere

Eine bedeutende Barriere für die von einer Disruption des eigenen Geschäfts-modelles betroffenen Unternehmen ist ihre digitale Architektur. Häufig existiert keine zentrale Technologie- und Daten-Plattform oder man befindet sich in einer großen Abhängigkeit von Plattform-Partnern, die einen wichtigen Teil der KI-basierten Wertschöpfung übernehmen.15

Die Relevanz dieser Barriere resultiert unter anderem daraus, dass eine weiterentwickelte digitale Architektur das Bindeglied zwischen innovativen Geschäftsmodellen und produktiveren Prozessen bildet.

 

Zunehmende Bedeutung von Business Process Intelligence

Wichtige Impulse für das Process Mining sind von dem niederländischen Professor Wil van der Aalst ausgegangen, der an der RWTH Aachen die Gruppe Process and Data Science leitet.16 In Verbindung mit Robotic Process Automation entstehen in praktisch allen Branchen und auch im öffentlichen Sektor neue Möglichkeiten zur Steigerung der Produktivität von Kernprozessen. Der Co-Geschäftsführer von Celonis, Bastian Nominacher schätzt, dass der adressierbare Markt 60 bis 70 Milliarden Dollar groß ist.17 Wil von der Aalst arbeitet neben seiner Tätigkeit an der RWTH Aachen als Chef-Wissenschaftler für Celonis.18

Nach der Übernahme des Start-ups Signavio sieht SAP den Geschäftsbereich Business Process Intelligence als Kern seines Geschäftsmodells.19 Natürlich wird es bei dieser neuen Phase einer AIoT- getriebenen Produktivitätssteigerung Pioniere und Nachzügler geben. Leider gehören zu den Nachzüglern in Deutschland auch die öffentlichen Verwaltungen, für die das Thema eine große Herausforderung darstellt.

Ein konnnektives Management, das disruptive Geschäftsmodelle und produktivere Prozesse verbindet, entwickelt den seit langem bekannten Ambidextrie-Ansatz weiter, der eine Balance zwischen Exploration und Exploitation anstrebt.20 Die großen Digitalkonzerne setzen dabei auf das Rahmenkonzept einer Plattform-Organisation mit agilen Teams.21

 

Führungskompetenzen bei einer digitalen Evolution

Möglicherweise hat sich der Begriff der digitalen Transformation so lange gehalten, weil er gut zu einem machtdominierten traditionellen Management passt, bei dem die Chefetage strategische Pläne entwickelt, die die „Untergebenen“ dann umsetzen. Diese Vorstellung ist natürlich so heute nicht mehr zeitgemäß. In meiner 1991 erschienenen Habilitation habe ich die notwendig erscheinende Weiterentwicklung des strategischen Managements zu einer evolutionären Führung beschrieben.22 Im Mittelpunkt stehen dabei die Gestaltung eines Ordnungsrahmens für gemeinsame Lernprozesse und das Hinterfragen von Annahmen.

Dreißig Jahre später argumentiert der Organisationspsychologe und Wharton-Professor Adam Grant ähnlich. Er unterscheidet zwischen den Mindsets von Predigern, Politikern, Staatsanwälten und Wissenschaftlern. Der Mindset traditioneller Manager gleiche dem der drei erstgennanten Berufsgruppen. Dabei bestehe aber immer die Gefahr einer Selbstüberschätzung. Der Mindset erfolgreiche Start-ups und Digital-Unternehmer ähnele hingegen eher dem von Wissenschaftlern. Charakteristisch für deren Mindset seien Zyklen des Überdenkens, die durch Demut. Zweifel und Neugier geprägt sind.23

 

Lernprozess Innovationsstrategie

 

Ein solcher Rethinking Cycle anstelle des Overconfidence Cycle bildet die Grundlage für eine erfolgreiche digitale Evolution. Der Overconfidence Cycle kann hingegen leicht zu der irrigen Annahme führen, der Prozess einer digitalen Transformation sei abgeschlossen.

Für Deutschland, das sich ja gerne als Land der Denker, Wissenschaftler und Ingenieure sieht, sind das eigentlich gute Nachrichten. Es wäre allerdings notwendig, bei der Vermittlung von Führungskompetenzen stärker auf evolutionäre Zyklen des Überdenkens und agile Umsetzungsprozesse zu setzen.

 

Fazit

  • Die Digitalisierung verläuft eher nach dem Muster einer digitalen Evolution als dem einer digitalen Transformation
  • Die beiden miteinander verbundenen Handlungsfelder einer digitalen Evolution sind die Disruption durch innovative Geschäftsmodelle und eine Produktivitätssteigerung mit Business Process Intelligence
  • In beiden Handlungsfeldern spielt die Gestaltung eines Ordnungsrahmens für gemeinsame Lernprozesse eine zentrale Rolle
  • Wichtige Führungskompetenzen erfolgreicher Digital-Unternehmer sind die Moderation von Zyklen des Überdenkens von Hypothesen und eine Förderung agiler Umsetzungsprozesse

 

Literatur

[1] Alvares de Souza Soares, P., Kyriasoglou, C.: Systemausfall im Kanzleramt. In: Manager Magazin, Oktober 2021, S. 78-84

[2] Scholz, C.: Anspruch und Realität. In: Handelsblatt, 20. September 2021, S.12-13

[3] MacInnes, B.: Digital Transformation or Digital Evolution. In: MicroScope, 1. April 2021

[4] Saldanha, T.: Why Digital Transformations Fail – The Surprising Disciplines of How to Take Off and Stay Ahead, Oakland 2019

[5] Sandschneider, E.: Stabilität und Transformation politischer Systeme – Stand und Perspektiven politikwissenschaftlicher Transformationsforschung, Wiesbaden 1995

[6] Kaufmann, T., Servatius, H.G.: Das Internet der Dinge und Künstliche Intelligenz als Game Changer – Wege zu einem Management 4.0 und einer digitalen Architektur, Wiesbaden 2020, S. 3ff.

[7] Kolf, F.: Rewe baut Tech-Einhorn auf. In: Handelsblatt, 13./15./16. Mai 2021, S. 22

[8] Beinhocker, E.D.: Die Entstehung des Wohlstands – Wie die Evolution die Wirtschaft antreibt, Landsberg am Lech 2007

[9] Servatius, H.G.: Komplexitätsbewältigung als Treiber eines Connective Managements. In: Competivation Blog, 31.03.2021

[10] Kaufmann, Servatius, a.a.O., S. 31 ff.

[11] Kaufmann, Servatius, a.a.O., S. 93 ff.

[12] Jahn, T.: Workflow-Software zum Selberbauen. In: Handelsblatt, 14. Juni 2021, S. 44

[13] Kaufmann, Servatius, a.a.O., S. 73 ff.

[14] Kyriasoglou, C.: Ausgebremst. In: Manager Magazin, Februar 2020, S. 62-66

[15] Iansiti, M., Lakhani, K.R.: Competing in the Age of AI – Strategy and Leadership When Algorithms and Networks Run the World, Boston 2020

[16] van der Aalst, W.M.P.: Process Mining – Data Science in Action, Second Edition, Heidelberg 2016

[17] Holzki, L.: Celonis-Chef: „Wir haben noch viel größere Visionen“. In: Handelsblatt, 4./5./6. Juni 2021, S. 16-17

[18] Holzki, L.: Chefwissenschaftler für das wertvollste Start-up. In: Handelsblatt, 25. August 2021, S. 46

[19] Kapalschinski, C., Kerkmann C.: SAP will Milliardenzukauf zum Zukunftskern machen. In: Handelsblatt, 1. Juni 2021, S. 21

[20] Tushman, M.L., O’Reilly C.A.: Ambidextrous Organization – Managing Evolutionary and Revolutionary Change. In: California Management Review, 1996, Nr. 4, S. 8-30

[21] Servatius, H.G.: Die Ressourcen-Plattform mit agilen Teams als neue Organisationsform. In: Competivation Blog, 12.01.2021

[22] Servatius, H.G.: Vom strategischen Management zur evolutionären Führung – Auf dem Wege zu einem ganzheitlichen Denken und Handeln, Stuttgart 1991

[23] Grant, A.: Think Again – The Power of Knowing What You Don’t Know, London 2021, S. 27ff.

Innovations- und Nachhaltigkeitssysteme verbinden klassische Managementaufgaben

Innovations- und Nachhaltigkeitssysteme verbinden klassische Managementaufgaben

Die Digitalisierung, der Klimawandel und die Corona-Pandemie verändern die Spielregeln des Managements. Wir erläutern die verbindende Wirkung von Innovations- und Nachhaltigkeitssystemen.

 

Aus der stärkeren Betonung von Innovation and Sustainability ergibt sich die Forderung nach einer verbesserten Governance.

 

Zunehmende Bedeutung von Innovation und Nachhaltigkeit

Innovations- und Nachhaltigkeitsthemen haben in den letzten Jahrzehnten einen starken Bedeutungszuwachs erlebt. Wichtige Treiber dieser Entwicklung sind die Digitalisierung und der Klimawandel. Die Corona-Pandemie hat einerseits Defizite deutlich gemacht, wie z.B. in der öffentlichen Verwaltung, andererseits aber auch Entwicklungen beschleunigt, wie z.B. bei Impfstoffen.

Eine spannende Frage ist, wie dies alles die Spielregeln für gutes Management verändert.1 Von großer Bedeutung ist dabei die Bewältigung von Komplexität. Die Forschung der letzten Jahrzehnte zeigt, dass eine Komplexitätsbewältigung bei Innovations- und Nachhaltigkeitsherausforderungen systemorientierte Ansätze erfordert.

 

Systemorientierte Ansätze und Wechselwirkungen

Die Entwicklung der Innovationssysteme von Regionen resultiert aus dem Zusammenwirken von Akteuren aus den Sektoren Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft.2 Das Gleiche gilt für Nachhaltigkeitssysteme. Dies ist eine grundlegende Erkenntnis der Anwendung der Komplexitätstheorie auf die Felder Innovation and Sustainability. Gleichzeitig nehmen die Wechselwirkungen zwischen Innovations- und Nachhaltigkeitssystemen zu. So können digitale Innovationen und der Aufbau einer Wasserstoff-Industrie Mittel zur Bewältigung des Klimawandels sein.3 Daher wird bei den Themen Innovation and Sustainability eine integrative Perspektive immer wichtiger.

Lernprozess Innovationsstrategie

 

Eine solche ganzheitliche Sichtweise ist auch bei der Gestaltung der Innovations- und Nachhaltigkeitssysteme von Unternehmen Erfolg versprechend.

 

Verbindung von klassischen Managementaufgaben

Sowohl das Innovations- als auch das Nachhaltigkeitssystem von Unternehmen besteht aus Bausteinen, die interagieren. Den verantwortlichen Führungskräften kommt daher die Rolle von Systemgestaltern zu, die Akteure aus unterschiedlichen Bereichen orchestrieren. In unseren Blogposts haben wir gezeigt, dass die Strukturen des Innovations-4 und des Nachhaltigkeitssystems von Unternehmen5 ähnlich sind. Daher liegt es nahe, dass Chief Innovation und Chief Sustainability Officer intensiver zusammenarbeiten. Im Folgenden wollen wir erläutern, wie die Innovations- und Nachhaltigkeitssysteme von Unternehmen klassische Managementaufgaben verbinden.

Lernprozess Innovationsstrategie

 

Diese Managementaufgaben gliedern wir in die dargestellten acht Bausteine.

 

Unternehmenspolitik, Strategie und Performance Management

Der erste Baustein, den wir betrachten, ist die Unternehmenspolitik, die Strategie und das Performance Management. Die Ebene der Unternehmenspolitik erlebt seit Jahren eine Renaissance aufgrund der zunehmenden Sinnorientierung von Mitarbeitern, Kunden und Stakeholdern.6 Wichtige Treiber in der sogenannten Pupose Economy sind Nachhaltigkeitsinnovationen, wie z.B. in der Kreislaufwirtschaft, von der eine verbindende Wirkung ausgeht.

 

Innovations- und Nachhaltigkeitsstrategien sind auch immer bedeutender werdende Elemente der Unternehmensstrategie. Die langfristige Überlebensfähigkeit von Unternehmen hängt entscheidend von der Balance zwischen Innovationsvorteilen in neuen und Produktivitätsvorteilen in reifen Geschäftsmodellen ab.7 Eine Analyse des Business-Model-Portfolios erfolgt ausgehend von Risiken und einer nachhaltigen Wertsteigerung.8 In vielen reifen Geschäftsmodellen nimmt der Einfluss von Disruptions- und Umweltrisiken zu.

 

Das Performance Management leitet z.B. mit Hilfe der Objectives and Key Results (OKR-)Methode aus Innovations- und Nachhaltigkeitsstrategien Ziele und Schlüsselergebnisse ab.9 Wichtig für den Umsetzungserfolg sind dabei eine hohe Transparenz und eine gute Vernetzung der Akteure.

 

Kultur, Organisationsgestaltung und Personalmanagement

Gegenstand der Managementbausteine zwei und drei sind die Unternehmenskultur, die Organisationsgestaltung und das Personalmanagement. Eine innovations- und nachhaltigkeitsorientierte Kultur bildete für viele Pionierunternehmen die Keimzelle für ihre späteren Erfolge. Ein Beispiel ist der Outdoorspezialist Patagonia. Das verbindende Element bei diesem Vorreiter aus den USA sind spezifische Werte, die die Führungskräfte vorleben und die diesen Werten zugrunde liegenden Annahmen.10 Beim Patagonia-Gründer Yvon Chouinard ist eine solche Annahme, dass Sportler in der Natur eine besondere Verantwortung für die Umwelt haben.

 

Eine neue Organisationsform ist in großen Digitalkonzernen wie Amazon und Alphabet entstanden. Diese verbindet eine zentrale Ressourcenplattform mit agilen Teams und Netzwerkpartnern. Die zentrale Ressourcenplattform bildet den Kern einer Künstlichen Intelligenz (KI-)basierten Wertschöpfung, die Produktivitätsvorteile, verbesserte Lernprozesse und Geschäftsmodell-Innovationen ermöglicht.11

 

Angesichts neuer Herausforderungen erlebt auch das Personalmanagement gegenwärtig gravierende Veränderungen. Insbesondere gilt das für die Führung von Mitarbeitern und Teams, bei der der Fürsorgefaktor wichtiger wird als der Ego-Faktor der Chefs. Namensgeber für diese neue verbindende Führung ist das Connective-Leadership-Konzept, das eine Erweiterung der Verhaltenspräferenzen z.B. beim Erreichen von Innovations- und Nachhaltigkeitszielen fördert. Dies gelingt mit den verschiedenen Formen einer stärker beziehungsorientierten Führung.12

 

F&E-Management, IT und Digitalisierung

Beim vierten Baustein, der Forschung und Entwicklung (F&E), werden die notwendigen Verbindungen zwischen Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Gesellschaft besonders deutlich. Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) fordert eine verbesserte Innovationspolitik, die gezielt ausgewählten technologischen Missionen zum Durchbruch verhilft.13 Als Beispiel nennt der Verband das autonome Fahren. Die spannende Frage ist, wie es gelingt, derartige Missionen besser zu koordinieren. Dies erfordert neue Formen der Zusammenarbeit zwischen dem privaten und dem öffentlichen Sektor. Die Ausgestaltung einer solchen Zusammenarbeit ist gegenwärtig Gegenstand einer intensiven politischen Diskussion.14

 

Eng mit dem Thema Forschung und Entwicklung verknüpft ist unser fünfter Managementbaustein, die Digitalisierung, die alle Unternehmensbereiche durchdringt und auch die Rolle des IT-Managements verändert. Ausgehend von digitalen Querschnittstechnologien, wie dem Internet der Dinge und der Künstlichen Intelligenz entstehen neue Geschäftsmodelle und produktivere Prozesse, die den Wettbewerb zwischen Wirtschaftsräumen verändern. Man kann diskutieren, ob der digitale Wandel transformativ oder evolutionär verläuft.15 Entscheidend ist jedoch das Ergebnis: Regionen, die diesen Wandel nicht erfolgreich meistern, fallen im internationalen Wettbewerb zurück und ihr Wohlstand nimmt ab.

 

Wertschöpfung, Qualitätsmanagement und Marketing

Der Fokus von Managementbaustein Nummer sechs liegt auf der Wertschöpfung und dem Qualitätsmanagement. An diesem Baustein lässt sich die Notwendigkeit einer noch besseren Verbindung von Innovations- und Nachhaltigkeitssystemen verdeutlichen. Prozessinnovationen ermöglichen nicht nur Kostensenkungen, sondern auch das Erreichen von ökologischen und sozialen Zielen. Gleichzeitig wird das Qualitätsmanagement agiler und erlebt durch Nachhaltigkeitsthemen eine Bedeutungserweiterung. Dies alles gelingt aber nur, wenn Unternehmen überholte Silostrukturen überwinden und neue Formen der Zusammenarbeit praktizieren. Ein wichtiges Ziel sind Fortschritte bei der Dekarbonisierung der Wertschöpfung, z.B. in der Stahl-, Zement- und Chemieindustrie. Dies erfordert den Einsatz neuer grüner Technologien. Nach Schätzungen des Bundesumweltministeriums und des DIHK wird sich das globale Marktvolumen für Umwelttechnik und Ressourceneffizienz bis 2030 auf rund 9,4 Billionen Euro verdoppeln.16 In der Erschließung dieser Märkte liegen große Chancen für die europäische Industrie.

Die Jahrzehnte alte Forderung des Marketings nach einer stärkeren Kundenorientierung – unser Baustein Nummer sieben – hat durch agile Methoden wie Design Thinking und Scrum neue Impulse bekommen. Gleichzeitig reagieren Kunden kritischer auf ein Greenwashing, das im Marketing immer noch weit verbreitet ist. Beide Entwicklungen erfordern ein verändertes Führungsverhalten. Um dies zu erreichen, setzen Unternehmen verstärkt auf das New Mentoring, bei dem erfahrene Experten neue Managementkonzepte und konnektive Fähigkeiten vermitteln.17

 

Finanzen und Risikomanagement

Die Themen Finanzen und Risikomanagement haben wir zu unserem achten und letzten Managementbaustein zusammengefasst. Die Unternehmen mit der weltweit höchsten Marktkapitalisierung sind überwiegend Digitalkonzerne. Neben der Wertsteigerung ausgehend von digitalen Technologien gewinnt für Finanzverantwortliche das Thema Nachhaltigkeit an Bedeutung.18 In Ratingagenturen sind unterschiedliche Konzepte zur Bewertung der Faktoren Environment, Social and Governance (ESG) entstanden. Bislang sind die verschiedenen ESG-Ratings jedoch schwer vergleichbar, da es hierfür keinen einheitlichen Ansatz gibt. Innovations- und nachhaltigkeitsorientierte Unternehmen können bei der Entwicklung von Konzepten zu einer Sustainable Value Creation ESG-Kriterien als Orientierungshilfe nutzen. Sie sollten aber vor allem die spezifischen Chancen der eigenen neuen Geschäftsmodelle kommunizieren.19

Neben der Chancenwahrnehmung arbeiten viele Unternehmen an einer Verbesserung ihres Risikomanagements. Die Corona-Pandemie und aktuell die Hochwasser-Katastrophe haben das Bewusstsein für Risiken mit geringer Eintrittswahrscheinlichkeit und hoher Schadenswirkung geschärft. Diese sogenannten „Schwarzen Schwäne“ galten lange Zeit als nicht prognostizierbar.20 Eine wichtige Lektion aus den im Umfeld kleinerer Flüsse aufgetretenen Extremschäden ist nun, dass die betroffenen Regionen innovative Programme zur Klimaanpassung umsetzen müssen.

 

Governance-Modell zur Verbesserung der Konnektivität

Eine wichtige Schlussfolgerung aus diesen Überlegungen ist, dass die Gestaltung der Verbindungen zwischen dem Innovations- und Nachhaltigkeitssystem von Unternehmen und ihren klassischen Managementbausteinen ein verbessertes Governance-Modell erfordert. Die Verantwortlichen sollten diesen neuen Ordnungsrahmen aktiv gestalten, um auf diese Weise die sich verändernde Praxis von ESG-Ratings zu beeinflussen.

Ein solches Governance-Modell ergibt sich aus dem Zusammenspiel von Führungsverhalten, Kultur, Organisation und Personalentwicklung. Ein zentraler Erfolgsfaktor dabei ist, dass Unternehmen den Innovations- und Nachhaltigkeitsthemen eine höhere Priorität zuweisen. Die Bewertung von ESG-Faktoren entwickelt sich zu einem Governance, Innovation and Sustainability (GIS-) Rating weiter.

Angesichts der Fülle von Nachhaltigkeitsregeln, die die Europäische Union (EU) z.B. für Fondsgesellschaften plant, 21 sollten sich Unternehmen fragen, wie sie mit einem verbindenden Management echte Nachhaltigkeitsinnovationen schaffen.

 

Fazit

  • Innovationssysteme und Nachhaltigkeitssysteme haben eine ähnliche Struktur und wachsen immer mehr zusammen
  • Von beiden Systemen geht eine verbindende Wirkung auf klassische Managementaufgaben aus
  • Eine neue Herausforderung für Führungskräfte ist es, diese Konnektivität aktiv zu gestalten
  • Dies erfordert ein verbessertes Governance-Modell als Ordnungsrahmen zur Bewältigung der Megatrends Digitalisierung und Klimawandel

 

Literatur

[1] Backovic, L.: Nahbarer, reflektierter, klarer. In: Handelsblatt, 16.,17.,18. Juli 2021, S. 48-52

[2] Blättel-Mink, B., Ebner, A. (Hrsg.): Innovationssysteme – Technologie, Institutionen und die Dynamik, der Wettbewerbsfähigkeit, 2. Aufl., Wiesbaden 2020

[3] Servatius, H.G.: Digital Engineering als Mittel zur Gestaltung nachhaltiger Systeme. In: Competivation Blog, 08.06.2021

[4] Servatius, H.G.: Innovationssysteme gestalten und befähigen. In: Competivation Blog, 22.02.2018

[5] Servatius, H.G.: Erfolgreiche Nachhaltigkeitsinnovationen mit verbesserten Stakeholder-Beziehungen. In: Competivation Blog, 20.02.2020

[6] Servatius, H.G.: Nachhaltigkeitsinnovationen als Werttreiber in der Purpose Economy. In: Competivation Blog, 05.10.2020

[7] Osterwalder, A. et al.: The Invincible Company, Hoboken 2020

[8] Servatius, H.G.: Analyse von Geschäftsmodell-Portfolios und Verbesserung des Risikomanagements. In: Competivation Blog, 15.11.2020

[9] Servatius, H.G.: Management 4.0 mit Objectives und Key Results (OKR). In: Competivation Blog, 28.03.2019

[10] Servatius, H.G.: Förderung einer Innovationskultur durch die Führung. In: Competivation Blog, 07.01.2020

[11] Servatius, H.G.: Die Ressourcen-Plattform mit agilen Teams als neue Organisationsform. In: Competivation Blog, 12.01.2021

[12] Servatius, H.G.: Personalführung im Zeitalter eines Connective Managements. In: Competivation Blog, 19.01.2020

[13] Gillmann, B.: Industrie fordert Zugang zu staatlichen Daten In: Handelsblatt, 21. Juli 2021, S.10-11

[14] Mazzucato, M., Stelter, D.: „Wir müssen das Bild vom Staat ändern und ehrgeiziger sein“. In: Manager Magazin, Juni 2021, S. 101-105

[15] Servatius, H.G.: Warum der digitale Wandel evolutionär verläuft. In: Competivation Blog, in Vorbereitung

[16] Knitterscheidt, K., Köhler, D.: Grüne Investitionswelle. In: Handelsblatt, 28. Juli 2021, S, 4-5

[17] Servatius, H.G.: Mentoring-Programme für die Entwicklung konnektiver Fähigkeiten. In: Competivation Blog, 10.05.2021

[18] Leleux, B., van der Kaaij, J.: Winning Sustainability Strategies – Finding Purpose, Driving Innovation and Executing Change. Cham 2019

[19] Servatius, H.G.: Nachhaltige Geschäftsmodelle durch eine verbesserte Stakeholder-Interaktion. In: Competivation Blog, 11.04.2020

[20] Taleb, N.N.: The Black Swan – The Impact of the Highly Improbable, New York 2007

[21] Narat, I., Rezmer, A.: Die grüne Illusion. In: Handelsblatt, 2. September 2021, S. 1, 4-5

Hürden bei der Umsetzung von Digitalprogrammen

Hürden bei der Umsetzung von Digitalprogrammen

In vielen Unternehmen hat die in speziellen Innovationswerkstätten gestartete Digitalisierung inzwischen die gesamte Organisation erreicht. Bei der Umsetzung von Digitalprogrammen sind jedoch einige Hürden zu überwinden.

 

Fähigkeit zur Selbstdisruption

In seinem neuen Buch Disrupt Yourself beschäftigt sich Christoph Keese mit der Frage, wie es dem Einzelnen und einem ganzen Unternehmen gelingt, sich in der digitalen Welt neu zu erfinden. Eine Möglichkeit für Unternehmen ist das Company-Builder-Modell, bei dem eine kleine Gruppe von Mitarbeitern den Kontakt zu Startups pflegt und die Keimzelle für neue Geschäftsmodelle bildet.

Ein solcher Company Builder des Heizungs- und Klimaspezialisten Viessmann ist Watt X in Berlin. Daneben hat Viessmann am Stammessitz in Allendorf für Partnerschaften im Stammgeschäft den Innovation Boiler sowie den Wagniskapital-Arm Vito Ventures gegründet. Damit verfolgt Viessmann die Strategie, die Funktionen Bauen, Partnerschaften eingehen und Investieren klar voneinander zu trennen.1

Innovationswerkstätten (Corporate Digital Labs) wie Watt X haben in den letzten Jahren einen regelrechten Hype erlebt.2 Die weitere Entwicklung wird zeigen, wie erfolgreich dieses Konzept im Rahmen des digitalen Wandels ist.

Parallel dazu schreitet in immer mehr Branchen die Digitalisierung des Kerngeschäfts voran.

 

Die Digitalisierung als Hürdensprint

In unserer praktischen Projektarbeit beobachten wir, dass Unternehmen bei der Digitalisierung ihres Kerngeschäfts mit einigen grundlegenden Problemen kämpfen. Diese Probleme gleichen einem Hürdensprint. In dieser Sportart kann ein grober Fehler an einer einzelnen Hürde für den Läufer das Aus bedeuten. Ähnlich verhält es sich bei Digitalprogrammen.

Die vier Hürden, die wir im Folgenden skizzieren, sind:

  • Widerstand gegen die Ergebnisse eines Innovationsaudits
  • eine starke Linienorganisation und ein schwaches Programm-Management
  • Mangel an qualifizierten Projektleitern für die Digitalisierung
  • das Fehlen eines agilen Performance-Management-Systems, z.B. Objectives and Key Results (OKR)

Nicht selten treten diese vier Hürden in Kombination auf.

 

 

Ein Innovationsaudit als Ausgangspunkt für Digitalprogramme strebt eine kritische Bestandsaufnahme der externen Herausforderungen und der Innovationsfähigkeit des Unternehmens an.3 Eine Grundvoraussetzung für den Erfolg ist, dass sich Führungskräfte und Mitarbeiter mit den Ergebnissen ehrlich auseinandersetzen und Ziele formulieren. Leider kommt es gelegentlich vor, dass Führungskräfte versuchen, Audit-Ergebnisse unter den Teppich zu kehren, weil sie befürchten, für eigene Versäumnisse zur Verantwortung gezogen zu werden. Ein solcher Widerstand ist natürlich absolut dysfunktional. Mitarbeiter erwarten von ihren Vorgesetzten Transparenz und Glaubwürdigkeit bei der gemeinsamen Suche nach Lösungen. Eine Haltung nach dem Motto: “Die Ergebnisse sind vertraulich und werden nicht kommuniziert“ untergräbt beides.

Neben einer starken Linienorganisation bewältigen Unternehmen viele wichtige Aufgaben im Rahmen von Programmen und Projekten. Dies gilt zunehmend auch für das Thema Innovation und Digitalisierung. Häufig sind die Rollen von Programm-Manager und ihr Verhältnis zu Bereichs- und Abteilungsleitern jedoch nicht hinreichend geklärt oder das Programm-Management hat insgesamt zu wenig Einfluss. Dies zeigt sich in fehlenden strategischen Budgets für Programme und einer Doppelbelastung von Projektleitern, die zwischen verschiedenen Aufgaben hin- und herspringen. Die Führung des Unternehmens muss daher das Verhältnis zwischen der Linienorganisation und dem Programm-Management klären. Dabei kommt es auf die Verknüpfung von vertikalen Befehlsketten mit einer stärkeren horizontalen Vernetzung in Projekten an.

 

 

Ein gemeinsames Versäumnis von Hochschulen und Unternehmen ist die unzureichende Weiterbildung zu qualifizierten Projektleitern für die Digitalisierung. Von dieser Entwicklung profitiert zwar der Beratermarkt, besser wäre es aber, wenn Unternehmen diese wichtige Aufgabe stärker selbst in die Hand nehmen würden.

Die vierte Hürde resultiert aus einem Festhalten an traditionellen Performance-Management-Systemen wie Balanced-Scorecards. Es hat erstaunlich lange gedauert, bis die bei Intel entstandene und von Google weiterentwickelte Objectives and Key Results (OKR-) Methode auch in Europa bekannter geworden ist.4 Ihr Vorteil liegt darin, dass transparente, messbare Ergebnisse die Agilität fördern.

Eine Bewältigung dieser vier Hürden erhöht die Erfolgswahrscheinlichkeit von Digitalprogrammen. Damit wird ein wichtiger Beitrag zur Wertsteigerung mit Innovationen geleistet.

 

Literatur

  1. Keese, C., Disrupt Yourself – Vom Abenteuer, sich in der digitalen Welt neu zu erfinden, München 2018, S. 237 ff.
  2. Servatius, H.G., Organisatorische Umsetzung von Innovationen. In: Competivation Blog, 20. September 2016
  3. Servatius, H.G., Auditierung des Innovationssystems eines Unternehmens. In: Competivation Blog, 19. März 2015
  4. Doerr, J., Measure What Matters – OKRs: The Simple Idea That Drives 10x Growth, New York 2018

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