Entwicklungsstufen des strategischen Managements | Competivation
Von erfolgreichen Digital-Unternehmen lernen

Von erfolgreichen Digital-Unternehmen lernen

Sechs der sieben wertvollsten Unternehmen der Welt sind führend bei Technologien der Künstlichen Intelligenz (KI). Daneben gehen beim aktuellen Thema generative KI wichtige Impulse von Start-ups aus. Daher stellt sich die Frage, was etablierte Unternehmen von diesen Digital-Champions lernen können. Die Suche nach Antworten auf diese Frage führt uns zu einem Paradigmenwechsel im strategischen Management, der lange Zeit von etablierten Unternehmen nicht verstanden worden ist. Eng damit verbunden ist ein Wandel der Personalführung und Kultur.

 

In diesem Blogpost erläutere ich einen Ansatz, der zum Erfolg der Digital-Unternehmen beigetragen hat. In den USA nennt man diesen Ansatz „geeky leadership style“.

 

Steigerung des Unternehmenswertes der „großen Sechs“

Zu den sieben wertvollsten Unternehmen der Welt gehören (Stand 27.06.2024) Microsoft, Apple, Nvidia, Alphabet, Amazon und Meta. Diese „großen Sechs“ aus den USA profitieren in unterschiedlichem Maße von dem gegenwärtigen Boom bei der generativen Künstlichen Intelligenz.1 Allein Microsoft ist zurzeit 77 Prozent mehr wert als alle 40 Dax-Unternehmen zusammen.

Der Erfolg der US-Unternehmen basiert aber nicht nur auf ihrer Digitalkompetenz, sondern auch auf Managementinnovationen. Diese Kombination hat zu einem Vorsprung gegenüber etablierten Unternehmen geführt. Während die Kompetenz in den unterschiedlichen Wellen der Digitalisierung offensichtlich ist, sind die neuen Managementansätze in den Erfolgsphasen der Digital-Unternehmen weit weniger transparent.

 

Ursachen der Erfolgsphasen von Digital-Unternehmen

Wir sind daher der Frage nachgegangen, was die europäische Wirtschaft von erfolgreichen Digital-Unternehmen lernen kann. Das Ergebnis ist eine Kausalkette, die mit der Verbindung der ersten Entwicklungsstufe eines markt- und finanzorientierten strategischen Managements mit der zweiten, durch Technologie und Innovation bestimmten Stufe beginnt. Diese Verbindung hat Theorie verändernd gewirkt und zu einem Paradigmenwechsel von einem eher mechanistischen zu einem komplexitätsbewältigenden strategischen Management geführt. Dieser Paradigmenwechsel prägte die Kultur in den Erfolgsphasen von Digital-Unternehmen. In diesen Phasen ist eine innovationsfördernde Personalführung und disruptive Unternehmenskultur entstanden, die für etablierte Unternehmen eine schwer zu überwindende Barriere darstellt.

Lernprozess Innovationsstrategie

Diese drei Ursachen möchte ich in den folgenden Abschnitten erläutern. Ein besseres Verständnis der Ursachen kann dazu beitragen, dass etablierten Unternehmen der digitale Wandel besser gelingt. Eine Grundvoraussetzung hierfür ist allerdings die Bereitschaft, zu lernen und traditionelle kulturelle Normen zu hinterfragen. Den Ausgangspunkt bildet eine systemorientierte Verbindung der Strategie 1.0 und der Strategie 2.0.

 

Systemorientierte Verbindung von Strategie 1.0 und 2.0

Seit Anfang der 1980er Jahre hat eine Erweiterung des traditionellen markt- und finanzorientierten strategischen Managements (Strategie 1.0) um eine technologie- und innovationsorientierte zweite Entwicklungsstufe stattgefunden (Strategie 2.0).2 Diese Erweiterung haben erfolgreichen Digital-Unternehmen zu ihrem Vorteil genutzt. Deren Erfolg basiert zum einen auf ihrem Vorsprung bei digitalen Technologien. Mindestens ebenso wichtig ist die systemorientierte Integration eines analyseorientierten strategischen Handelns und einer innovationsfördernden Kultur. Auf diese Weise ist es ihnen gelungen, einen neuen integrierten Ansatz zur Gestaltung von Innovationsystemen zu realisieren.3 Dieser Ansatz ist nicht auf das eigene Unternehmen beschränkt, sondern bezieht Start-up-Ökosysteme mit ein.

In erfolgreichen Start-up-Ökosystemen arbeiten vier Sektoren partnerschaftlich zusammen. Die Politik fördert aktiv die Bildung, neue Technologien und Innovationen. Der Wissenschaft gelingt die erfolgreiche Ausgründung von Start-ups. Wagniskapitalgeber und ein Corporate Venture Management finanzieren nicht nur die Gründung, sondern auch die Skalierung der Start-ups. Und auch die Gesellschaft spielt eine wichtige Rolle, indem sie ein positives Innovationsklima und attraktive Rahmenbedingungen schafft.

Lernprozess Innovationsstrategie

Dieses Zusammenspiel hat mit mehreren Jahrzehnten Vorsprung gegenüber Europa zur Erfolgsgeschichte des Silicon Valleys geführt.4 Das Beispiel zeigt jedoch auch das Spannungsverhältnis zwischen dem gegenwärtigen KI-Boom und den explodierenden Lebenshaltungskosten an der US-amerikanischen Westküste.

Die Entwicklung von Start-up-Ökosystemen wurde durch die in den 1960er Jahren entstandene Design-Wissenschaft5 und Methoden wie dem Design Thinking befruchtet.6 Das Design Thinking unterstützt den interdisziplinären Lernprozess zur Gestaltung von digitalen Geschäftsmodellen. Dabei wirken innovative Technologien als Ermöglicher von neuen Formen der Problemlösung und Befriedigung von Kundenbedürfnissen. Das bereits in den 1940er Jahren von dem Psychologie-Professor Kurt Lewin in den USA entwickelte Action Research7 liefert die theoretische Basis für Lernschleifen, die von Hypothesen ausgehen, etwas gestalten, das man bei Kunden testen kann und deren Ergebnisse zu möglichen Richtungsänderungen führen. Anfang der 1990er Jahren sind auf dieser Grundlage agile Methoden zur Softwareentwicklung wie Scrum entstanden.8 So sind aus Start-ups, die diese Konzepte nutzen, die wertvollsten Unternehmen der Welt geworden.

Das Beispiel Amazon zeigt, dass diese Unternehmen auch kritische Phasen meistern mussten. Nach dem Scheitern eines Projekts zur Verbesserung der Zusammenarbeit von Funktionsbereichen erkannte Jeff Bezos die Notwendigkeit eines Richtungswechsels. Er führte das „Zwei-Pizza-Prinzip“ für agile Teams ein und setzte die Konzentration von Projektleitern auf ein einzelnes Projekt durch (Single-Threaded Leaders). Damit agile Teams möglichst selbständig arbeiten können, war die Entwicklung einer modularen IT-Architektur notwendig. Diese interne Initiative bildete den Ausgangspunkt für die Gründung von Amazon Web Services (AWS), dem heutigen Weltmarktführer im Cloud-Geschäft.9

Die theoretische Grundlage für derartige Aktivitäten lieferte ein Paradigmenwechsel im strategischen Management, der sich in den 1990er Jahren vollzogen hat. Ich möchte kurz schildern, wie ich diese Zeit erlebt habe.

 

Paradigmenwechsel von mechanistisch zu komplexitätsbewältigend

Nach rund einem Jahrzehnt in der Strategieberatung hatte ich damals den Eindruck, dass die vorhandenen, relativ mechanistische Strategiekonzepte nicht ausreichend sind, um die Komplexität von Innovations- und Nachhaltigkeitsthemen zu bewältigen. Auf der Suche nach besseren Lösungsansätzen bin ich auf die Evolutions- und Komplexitätstheorien gestoßen und habe über den notwendig erscheinenden Paradigmenwechsel im strategischen Management 1991 an der Universität Stuttgart extern habilitiert.10

Lernprozess Innovationsstrategie

Ein komplexitätsbewältigendes strategisches Management basiert auf drei theoretischen Grundlagen, die sich wechselseitig beeinflusst haben. Als erstes sind in verschiedenen Disziplinen Evolutionstheorien entstanden, Sie betrachten die dynamische Abfolge von Ungleichgewichten als Balance zwischen Chaos und Ordnung, dessen Ergebnis von den Anfangsbedingungen abhängt.11 Wichtige Impulse gingen dann von dem 1984 in den USA gegründeten Santa Fe Institute und der dort entwickelten Theorie komplexer adaptiver Systeme aus. Diese beschäftigt sich mit der Schaffung von geeigneten Rahmenbedingungen für eine stärker selbstorganisierte Interaktion kompetenter Akteure am „Chaosrand“, die auf einfachen Regeln basiert.12 Einen Beitrag zur Anwendung in Organisationen leistet die Theorie komplexer interaktiver Beziehungsprozesse. Im Mittelpunkt stehen hierbei lokale, nicht lineare Interaktionen von Akteuren, aus deren Verlauf sich Muster ergeben, die schwer prognostizierbar sind.13

Diese relativ abstrakt klingenden Gedanken waren in den 1990er Jahren etablierten Unternehmen schwer zu vermitteln. Daher sind auch die großen Beratungsunternehmen nicht auf diesen Zug aufgesprungen. Dennoch haben die Theorien ihren Weg in die Praxis gefunden. Dieser Weg führte von der Stanford University zu Google. Mit der fortschreitenden Digitalisierung hat dann die Bedeutung der Evolutions- und Komplexitätstheorien stark zugenommen.

1995 erschien das Buch Competing on the Edge der späteren Google-Managerin Shona Brown und der Stanford-Professorin Kathleen Eisenhardt, die versuchen die Komplexitätstheorien auf das strategische Management zu übertragen.14 Ihre Handlungsempfehlungen gliedern sie in die Felder Chaosrand, Zeit-Harmonie und zeitliche Taktung. Im Mittelpunkt steht dabei eine Komplexitätsbewältigung durch die Suche nach der richtigen Balance. Im Feld Chaosrand lauten die Handlungsempfehlungen:

  • Mit professioneller Improvisation die Mitte zwischen zu viel Struktur und zu viel Durcheinander suchen und
  • durch gemeinsame Anpassung Synergien zwischen Geschäften nutzen, um so die Balance zwischen zu viel Kooperation und zu viel Egoismus zu finden.

Die Empfehlungen im Feld Zeit-Harmonie sind:

  • Durch gezielte Erneuerung Vorteile aus der Zukunft und der Vergangenheit ableiten und
  • Experimente durchführen, um mit Erfahrung heute das Morgen zu gestalten.

Die letzte Empfehlung betrifft die zeitliche Taktung. Sie lautet:

  • Das Tempo vorgeben, um so Übergänge zu synchronisieren und den richtigen eigenen Rhythmus zu finden.

Diese Handlungsempfehlungen haben die Personalführung und Kultur von Google und anderen Digital-Unternehmen geprägt.

 

Innovationsfördernde Personalführung und disruptive Unternehmenskultur

In Digital-Unternehmen hat sich ein spezifischer Führungsstil entwickelt, den man in den USA als „geeky leadership style“ bezeichnet. Der Begriff Geek (oder deutsch Geck) erlebt dabei einen Bedeutungswandel zum Positiven. Diese Form der Personalführung ist kulturprägend. Charakteristisch hierfür sind die folgenden vier kulturellen Normen:15

  • Eine spezifische wissenschaftliche Vorgehensweise (Science)
  • persönliche Verantwortung (Ownership)
  • eine hohe Geschwindigkeit von Iterationen (Speed) und
  • Offenheit (Openness).

Der disruptive Charakter einer solchen Kultur liegt darin, dass sie für etablierte Unternehmen aufgrund von Verhaltensbarrieren schwer zu entwickeln ist. Dies möchte ich kurz erläutern.

Lernprozess Innovationsstrategie

Die auf dem Action Learning und der Design-Theorie basierende wissenschaftliche Vorgehensweise ist auf ein datenbasiertes, lernendes Gestalten gerichtet. Diese Erkenntnisse haben Digital-Unternehmen wie Google frühzeitig genutzt und Infrastrukturen für das Testen von Hypothesen entwickelt. Die Testergebnisse bilden dann den Ausgangsunkt für eine intensive, faktenorientierte Argumentation der Akteure. Demgegenüber beruhen Entscheidungen in etablierten Unternehmen stärker auf den Überzeugungen und der Macht von Führungskräften sowie auf den Meinungen von Experten. Der kulturelle Wandel zu einem stärker wissenschaftlich orientierten Vorgehen kann in etablierten Unternehmen daher Widerstand auslösen, weil die Verantwortlichen einen Bedeutungsverlust befürchten. Die Personalentwicklung an Hochschulen und in der Praxis sollte hier ein bewusstes Gegengewicht schaffen.

Charakteristisch für digitale Start-ups ist eine persönliche Verantwortung der Führungskräfte mit einem höheren Grad an Autonomie, einer Ermächtigung agiler Teams und weniger Koordinationsaufwand. Etablierte Unternehmen kämpfen hingegen oft mit einer zunehmenden Bürokratisierung, bei der viele mitreden dürfen und ihre Macht demonstrieren, indem sie ein Veto einlegen. Auch Microsoft stand vor der Herausforderung, eine Ownership-Kultur zurückzugewinnen, was unter der Führung von Satya Nadella gelungen ist. In der Öffentlichkeit viel diskutiert wird der Versuch des Unternehmens Bayer, Bürokratie mit Hilfe des Humanocracy-Konzepts abzubauen, das der Management-Guru Gary Hamel entwickelt hat.16 Es bleibt abzuwarten, wie erfolgreich dieser Versuch ist.

Eine Wurzel des „geeky leadership styles“ ist das 2001 geschriebene agile Manifest, das die Geschwindigkeit von schnellen Iterationen betont. Etablierte Hardware-orientierte Unternehmen tun sich häufig schwer, dieses bei der Softwareentwicklung entstandene Vorgehen mit ihrem existierenden Produktinnovationsprozess zu verknüpfen. Angesichts der zunehmenden Bedeutung von Software z.B. in der Automobilindustrie werden hybride Ansätze immer wichtiger, die die vorhandenen Kompetenzen mit Digitalkompetenz verbinden. Ein Erfolgsindikator hierfür ist, dass die Unternehmen ihre gesetzten Zeitziele erreichen und nicht Opfer des 90-Prozent-Syndroms werden, bei dem die Akteure zu spät merken, dass sie ihre Ziele verfehlen.

Charakteristika der kulturellen Norm Offenheit sind das Teilen von Informationen, Empfänglichkeit für andere Argumente, die Bereitschaft, Situationen neu zu bewerten und die eigene Richtung zu ändern. Das Gegenteil von Offenheit sind weit verbreitete defensive Verhaltensmuster, die der Harvard-Professor Chris Argyris bereits seit den 1980er Jahren als Kennzeichen etablierter Unternehmen beschrieben hat.17 Die negative Konsequenz ist oft, dass die Gemeinschaft diejenigen bestraft, die gegen herrschende Normen verstoßen. Eine Extremform defensiver Verhaltensmuster ist die stillschweigende Duldung unethischer oder strafbarer Aktivitäten. Hingegen erkennt man eine durch Offenheit geprägte Kultur z.B. daran, dass junge Mitarbeitende ihrem Chef in einem internen Meeting offen widersprechen dürfen, ohne mit Sanktionen rechnen zu müssen.

Dieses Beispiel führt uns zu einem Ansatz, wie etablierte Unternehmen die kulturelle Distanz zur digitalen Welt verringern können.

 

Kulturelle Normen anpassen und vorleben

Führungskräfte etablierter Unternehmen haben die Aufgabe, einen individuellen Zugang zu den kulturellen Normen erfolgreicher Digital-Unternehmen zu finden. Dabei kann die Kenntnis der skizzierten theoretischen Grundlagen hilfreich sein. Der Erfolg in der digitalen Welt bedeutet jedoch nicht, dass diese Normen 1:1 auf ein etabliertes Unternehmen übertragbar sind. Sie bedürfen einer Anpassung an die spezifische Situation und an die Rahmenbedingungen des jeweiligen Unternehmens. Nachdem bezüglich dieser situativen Anpassung ein Konsens besteht, kommt es darauf an, dass die Führungskräfte veränderte kulturelle Normen vorleben. Eine wichtige Rolle spielt dann eine entsprechende Personalentwicklung und Beförderungspolitik. Daher ist die Vorstellung von einer schnellen, umfassenden digitalen Transformation unrealistisch. Eine erfolgreiche digitale Neuausrichtung in etablierten Unternehmen verläuft eher als spezifischer, längerfristiger Prozess.18

 

Zusammenarbeit mit Start-ups als eine zu wenig genutzte Chance

Eine Möglichkeit für etablierte Organisationen, von erfolgreichen Digital-Unternehmen zu lernen, besteht in einer verstärkten Zusammenarbeit mit Start-ups. Leider wird diese Chance zu wenig genutzt. So kommt eine Studie des Deutschen Start-up-Monitors zu dem Ergebnis, dass die Kooperation von Konzernen und Mittelständlern mit jungen Unternehmen von 2020 bis 2023 um zehn Prozent zurückgegangen ist. Die Chefin des Start-up-Verbands Verena Pausder sieht in dieser Rückwärtsentwicklung ein Alarmsignal und fördert eine Neuauflage der Partnerkultur.19 Gerade das aktuelle Thema der generativen Künstlichen Intelligenz böte hierzu vielfältige Ansätze. Zwar gibt es eine Reihe von Initiativen, wie die seit 2018 in Ostwestfalen stattfindende Konferenz „Hinterland of Things“, die verschiedenen Akteure vernetzt. Aber insgesamt existiert bei der Gestaltung von Start-up-Ökosystemen noch ein erhebliches Ausbaupotenzial.

 

Fazit

  • Viele der wertvollsten Unternehmen der Welt haben sich in relativ kurzer Zeit von Start-ups zu Digital-Champions entwickelt
  • Zur Beantwortung der Frage, was etablierte Unternehmen hieraus lernen können, haben wir die Entwicklung des strategischen Managements analysiert
  • Im Unterschied zu etablierten Unternehmen haben Digital-Unternehmen in ihren Erfolgsphasen einen Paradigmenwechsel im strategischen Management von mechanistisch zu komplexitätsbewältigend aktiv vorangetrieben
  • Eine wichtige Rolle hat dabei ein Wandel der Personalführung und Kultur gespielt
  • Führungskräfte in etablierte Unternehmen stehen vor der Aufgabe, situativ angepasste kulturelle Normen vorzuleben
  • Dabei sollten sie stärker die Möglichkeit nutzen, mit Start-ups zusammenzuarbeiten

 

Literatur

[1] Sommer, U., KI entfacht Kursfeuerwerk. In: Handelsblatt, 27. Dezember 2023, S.1, 4, 6

[2] Servatius, H.G., Evolution des strategischen Managements. In: Competivation Blog, 28.06.2024

[3] Servatius, H.G., Gestaltung des Innovationssystems von Unternehmen. In: Servatius, H.G., Piller, F.T. (Hrsg.), Der Innovationsmanager – Wertsteigerung durch ein ganzheitliches Innovationsmanagement, Symposion 2014, S. 21-64

[4] Keese, C., Silicon Valley – Was aus dem mächtigsten Tal der Welt auf uns zukommt, Knauer 2014

[5] Simon, H.A., The Sciences of the Artificial, 2.Aufl., MIT Press 1981 (1. Aufl.1969)

[6] Kelly T., Kelly, D., Creative Confidence – Unleashing the Creative Potential within us all, William Collins 2013

[7] Marrow, A.J., Kurt Lewin – Leben und Werk, Ernst Klett 1977

[8] Sutherland, J.J., The Scrum Fieldbook – A Master Class on Accelerating Perfomance, Getting Results, and Defining the Future, Currency 2019

[9] Bryar, C., Carr, B., Working Backwards – Insights, Stories, and Secrets from Inside Amazon, Macmillan 2021

[10] Servatius, H.G., Vom strategischen Management zur evolutionären Führung – Auf dem Wege zu einem ganzheitlichen Denken und Handeln, Poeschel 1991

[11] Beinhocker, E.D., Die Entstehung des Wohlstands – Wie Evolution die Wirtschaft antreibt, mi-Fachverlag 2007

[12] Lewin, R., Die Komplexitätstheorie – Wissenschaft nach der Chaos-Forschung, Hoffmann und Campe 1993

[13] Stacey R., Tools and Techniques of Leadership and Management – Meeting the Challenge of Complexity, Routledge 2012

[14] Brown, S.L., Eisenhardt, K.M., Competing on the Edge – Strategy as Structured Chaos, Harvard Business Review Press 1998

[15] McAfee, A., The Geek Way – The Radical Mindset That Drives Extraordinary Results, Macmillan 2023

[16] Hamel, G., Zanini, M., Humanocracy – Creating Organizations as Amazing as the People Inside Them, Harvard Business Review Press 2020

[17] Argyris, C., Overcoming Organizational Defences – Facilitating Organizational Learning, Allyn and Bacon 1990

[18] Servatius, HG., Dreifache strategische Neuausrichtung. In: Competivation Blog, 07.06.2024

[19] Müller, A., Schimroszik, N., Mittelstand rückt von Start-ups ab. In: Handelsblatt, 13. Juni 2024, S.22

Evolution des strategischen Managements

Evolution des strategischen Managements

Digital-Unternehmen haben die erste Entwicklungsstufe des markt- und finanzorientierten strategischen Managements mit einer zweiten Stufe verbunden, die durch Technologie und Innovation geprägt ist. Bereits vor der Entstehung des strategischen Managements ist eine solche Konnektivität grundlegender Orientierungen ein Erfolgsfaktor der europäischen Hidden Champions gewesen. In der Fähigkeit zur Verbindung liegt auch gegenwärtig eine Chance für die europäische Industrie, die sich ausgehend von ihren traditionellen Stärken neu in Richtung auf Digitalisierung, Nachhaltigkeit und Resilienz ausrichten muss.

In diesem Blogpost erläutere ich die Grundlagen und Charakteristika der ersten beiden Entwicklungsstufen des strategischen Managements und gehe auf die Rolle der generativen Künstlichen Intelligenz (KI) als Game Changer ein.

 

Verbindung von Strategie 1.0 und 2.0

Fast jedes zweite deutsche Unternehmen befürchtet, dass eine Deindustrialisierung des Standorts Deutschlands kaum noch aufzuhalten ist und dieser weiter an Attraktivität verliert. Das ist das ernüchternde Ergebnis einer Studie des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI). Nach Meinung der Befragten sei die Lage so schlecht wie schon lange nicht mehr.1

Natürlich ist dies vor allem ein Weckruf an die Politik. Daneben stellt sich aber die Frage, wie Unternehmen ihr strategische Managements an ein verändertes Umfeld anpassen können.

Aufgabe des strategischen Managements als interdisziplinäres Fachgebiet ist es, die Unternehmensentwicklung zu gestalten und neue Herausforderungen zu meistern. In den letzten Jahrzehnten haben sich die Rahmenbedingungen für die Wirtschaft grundlegend verändert. Die sich daraus ergebende Evolution des strategischen Managements gliedern wir in fünf Entwicklungsstufen.2 Zwischen diesen Stufen gibt es vielfältige Wechselwirkungen und Rückkopplungen. Gegenwärtig von besonderer Bedeutung ist die Verbindung zwischen der Strategie 1.0 und der Strategie 2.0. Eine wichtige Rolle spielen dabei Digital-Unternehmen.3

 

Vier grundlegende Orientierungen

Das strategische Management hat sich seit den 1960er Jahren aus der strategischen Planung entwickelt.4 Bereits lange vorher lag eine Stärke der wenig bekannten europäischen Weltmarktführer in ihrer Verbindung der Technologie-, Innovations-, Markt- und Finanzorientierung. Bis heute sind die vier grundlegenden Orientierungen bei diesem Unternehmenstyp auf spezifische, wissensintensive Geschäftsfelder fokussiert.5 Dies hat zum hohen Ansehen des German Engineering in der Welt beigetragen.

Der Siegeszug der ersten Entwicklungsstufe eines markt- und finanzorientierten strategischen Managements begann hingegen in diversifizierten US-amerikanischen Großunternehmen. Ein wichtiger Nutzen für die Verantwortlichen lag in der integrativen Sicht betrieblicher Funktionen und der Unterstützung von Portfolio-Entscheidungen. In den 1970er Jahren erreichte diese neuen Managementlehre deutsche Großunternehmen. Parallel dazu gewannen Funktionalstrategien an Bedeutung. Die Strategieumsetzung scheiterte aber häufig an einer von der Personalführung nicht bewältigten Komplexität.

Technologie- und Innovationsaspekte spielten in dieser ersten Stufe eine untergeordnete Rolle. Daher war die Verbreitung des strategischen Managements bei europäischen Hidden Champions und im Mittelstand eher gering. Dies hat mich Ende der 1970er Jahre bewogen, mit einer Promotion zum strategischen Technologie-Management zu beginnen. Interessanterweise befand sich in dieser Zeit die US-amerikanische Industrie in einer tiefen Krise.6 In meiner Dissertation habe ich eine ressourcenorientierte Methodik für die Entstehung von Technologiestrategien entwickelt und damit einen Beitrag zur zweiten Entwicklungsstufe eines technologie- und innovationsorientierten strategischen Managements geleistet.7 Dabei war eine wichtige Erkenntnis, dass erfolgreiche Innovationssysteme von Unternehmen aus verbundenen Handlungsfeldern bestehen. Bei deren Gestaltung kommt es auf die Fähigkeit an, die Entstehung und Umsetzung von Strategien mit einer unternehmerischen Kultur zu verbinden.8

In Europa weniger erfolgreich verlaufen ist die Erschließung des Potenzials digitaler Querschnittstechnologien. So waren es letztlich US-amerikanische Start-ups, die im Rahmen von verschiedenen Digitalisierungswellen die erste und die zweite Entwicklungsstufe des strategischen Managements zusammengeführt haben. Auf diese Weise sind die heute wertvollsten Unternehmen der Welt entstanden. Die Abbildung veranschaulicht die vier Orientierungen, die die ersten beiden Entwicklungsstufen des strategischen Managements verbinden.

Lernprozess Innovationsstrategie

Im folgenden möchte ich die Grundlagen und Charakteristika dieser beiden Entwicklungsstufen näher erläutern.

 

Markt- und finanzorientiertes strategisches Management

Die Ursprünge des Strategiebegriffs liegen im militärischen Sektor. Eine frühe Übertragung auf die Wirtschaft erfolgte an der Harvard Business School, wo man 1911 einen Kurs zum Thema Business Policy startete, um eine Klammer für die betriebswirtschaftlichen Funktionslehren zu schaffen. Schwerpunkt der Unternehmenspolitik sind die Themen Vision und Mission.9 Eine weitere Grundlage der ersten Stufe ist der Blick in mögliche Zukünfte, was der Begriff Foresight umschreibt.10 In dieser Entstehungsphase hat das strategische Management allmählich die bis dahin verbreitete Langfristplanung verdrängt.  Allerdings ist das strategische Management nie ein homogenes Konzept gewesen. Relativ früh sind verschiedene Schulen entstanden, die die Vielzahl möglicher Strategieprozesse beschreiben. Dabei ist der analytische Prozess nur eine der Varianten.11

Lernprozess Innovationsstrategie

Im Mittelpunkt der ersten Entwicklungsstufe des strategischen Managements (Strategie 1.0) steht der Fokus auf Wettbewerbsvorteile in Absatzmärkten.12 Das übergeordnete Ziel ist eine Steigerung des Unternehmenswertes für die Anteilseigner.13 Gegen diese dominierende Shareholder-Value-Sicht konnte sich die Stakeholder-Theorie zunächst nicht durchsetzen. Einen starken Einfluss auf die praktische Strategiearbeit hatte die durch Wissenschaftler und Managementberatungen geprägte Positionierungsschule, die die Strategieentwicklung als primär analytischen Prozess betrachtet. Eine populäre Methode ist die aus heutiger Sicht relativ mechanistisch erscheinende Portfolio-Analyse strategischer Geschäftselder.14

Der Hauptkritikunkt an der Strategie 1.0 ist, dass es mit dem primär analytischen Vorgehen allein nicht gelingt, Umsetzungsprobleme zu meistern. Zu einem Scheitern der Strategie-Implementierung tragen die Top-down-Vorgehensweise und die schwierige Harmonisierung von Funktionalstrategien bei. Trotz der Kritik ist diese erste Entwicklungsstufe vor allem in etablierten Großunternehmen lange Zeit weit verbreitet gewesen. Sie steht auch immer noch im Mittelpunkt der Lehre vieler Hochschulen, die zwischen den Fächern strategisches Management und Technologie- und Innovationsmanagement unterscheiden.

 

Technologie- und innovationsorientiertes strategisches Management

Die zweite, technologie- und innovationsorientierte Stufe des strategischen Managements basiert stärker auf Unternehmertum. Daher liefert für eine Strategie 2.0 die Entrepreneurship-Forschung eine wichtige Grundlage.15 In den USA haben die Finanzierung von Start-ups durch Venture Capital16 und das Corporate Venture Management viel früher an Bedeutung gewonnen als in Europa.17 Eine weitere wichtige Grundlage ist die ganzheitliche Designtheorie, die der Wirtschaftsnobelpreisträger Herbert Simon geprägt hat.18 Von den betriebswirtschaftlichen Funktionslehren behandeln vor allem das Forschungs- und Entwicklungs-(F&E) Management19 und das Produktionsmanagement20 technologische Themen.

Lernprozess Innovationsstrategie

Seit den 1980er Jahren hat sich die zweite Stufe des strategischen Managements sehr dynamisch in verschiedenen Phasen entwickelt.21 Der Fokus liegt dabei auf Technologien und Innovationsvorteilen. Das Technologie- und Innovationsmanagement integriert klassische Managementaufgaben in einem systemorientierten Ansatz.22 Hervorzuheben ist dabei die Bedeutung der Personalführung, Kultur und Organisation. Die Aufgabe von Innovationsmanagern liegt in der Gestaltung der verbundenen Handlungsfelder des Innovationssystems ihres Untenehmens.23 Diese systemorientierte Betrachtung von Handlungsfeldern bildet für die beteiligten Akteure einen gemeinsamen Rahmen. Die Evolution eines solchen offenen, komplexen Systems ergibt sich aus der Interaktion der Akteure mit ihrem Umfeld. In den letzten Jahrzehnten hat die Bedeutung von neuen Geschäftsmodellen24 und einer innovationsfördernden Kultur25 stark zugenommen. Dabei haben zunächst vor allem Start-ups mit agilen Methoden das Potenzial digitaler Technologien genutzt.26

Aus diesen Start-ups sind die US-amerikanischen Digital-Giganten hervorgegangen, deren Marktmacht teilweise auch kritisch gesehen wird. Für etablierte Unternehmen stellen der digitale Wandel und die damit verbundene Abhängigkeit von IT-Unternehmen eine große Herausforderung dar.27 In der folgenden Abbildung ist die zeitliche Entwicklung des technologie- und innovationsorientierten strategischen Managements zusammengefasst.

Lernprozess Innovationsstrategie

Eine neue Digitalisierungswelle geht von der generativen Künstlichen Intelligenz (KI) mit großen Sprachmodellen aus, die Produktivitätsvorteile und veränderte Formen der Wissensarbeit ermöglicht. Im Juni 2024 ist der KI-Ausrüster Nvidia kurzfristig das wertvollste börsenorientierte Unternehmen der Welt geworden.28 In dieser aktuellen Welle könnten die Karten zwischen Unternehmen und Wirtschaftsblöcken neu gemischt werden. Es stellt sich die Frage, wie Europa die sich hieraus ergebenden Risiken meistern kann.

 

Die generative KI als Game Changer für Europa

Als wir 2020 unser Buch Das Internet der Dinge und Künstliche Intelligenz als Game Changer publiziert haben, war der gegenwärtige Hype um die generative KI noch nicht absehbar. Im letzten Kapitel des Buchs setzen wir uns kritisch mit der europäischen und der deutschen Innovationspolitik auseindander.29 Eine spannende Frage ist, inwieweit die generative KI zu einer erfolgreichen Neuausrichtung der deutschen Wirtschaft beiträgt oder ihren weiteren Niedergang beschleunigt. Beides erscheint möglich. Daher befindet sich unser Land an einem Wendepunkt.

Aus der Erfolgsgeschichte der europäischen Hidden Champions können wir lernen, dass es entscheidend auf eine Verbindung der Sektoren Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft sowie der strategischen Handlungsfelder von Unternehmen ankommt. Unsere Empfehlung ist daher zu versuchen, eine Kultur der Verbundenheit zurückzugewinnen. Wichtig wäre es, dass alle Beteiligten einen entsprechenden Mindset entwickeln. Den sollten die Eliten vorleben und hoffen, dass die Bürgerinnen und Bürger ihrem Beispiel folgen. Die Aus- und Weiterbildung zum Thema Cultural Connectedness kann hierzu einen Beitrag leisten.

 

Fazit

– Der Erfolg von Digital-Unternehmen resultiert aus der Verbindung der ersten und  der zweiten Entwicklungsstufe des strategischen Managements

– Ein Problem der ersten markt- und finanzorientierten Stufe ist die Komplexitätsbewältigung bei der Strategieumsetzung

-Den Digital-Champions gelingt es besser als etablierten Unternehmen, das Potenzial der Informationstechnik zu nutzen und die verbundenen Handlungsfelder ihrer Innovationssysteme erfolgreich zu gestalten

– Mit dem Thema generative Künstliche Intelligenz (KI) hat bei der Verbindung von Strategie 1.0 und 2.0 ein neues Kapitel begonnen

 

Literatur

[1] Höpner, A., „Deindustrialisierung kann kaum noch aufgehalten werden“. In: Handelsblatt, 18.Juni 2024, S.18

[2] Servatius, H.G., Strategie 5.0 zur Bewältigung der neuen Herausforderungen. In: Competivation Blog, 28.06.2022

[3] Servatius, H.G., Personalführung im Zeitalter eines Connective Managements. In: Competivation Blog, 19.01.2021

[4] Ansoff, I.H., Declerck, R.P., Hayes, R.L. (Hrsg.), From Strategic Planning to Strategic Management, John Wiley 1976

[5] Simon, H., Hidden Champions des 21.Jahrhunderts –  Die Erfolgsstrategien unbekannter Weltmarktführer, Campus 2007

[6] Hayes, R.H., Wheelwright, S.C., Restoring Our Competitive Edge – Competing Through Manufacturing, John Wiley 1984

[7] Servatius, H.G., Methodik des strategischen Technologie-Managements – Grundlage für erfolgreiche Innovationen, Erich Schmidt 1985

[8] Schein, E.H., Organizational Culture and Leadership – A Dynamic View, Jossey Bass 1986

[9] Bleicher, K., Das Konzept Integriertes Management, Campus 1991

[10] Müller, A.W., Müller-Stewens, G., Strategie Foresight –  Trend- und Zukunftsforschung in Unternehmen –  Instrumente, Prozesse, Fallstudien, Schäffer Poeschel 2009

[11] Mintzberg, H., Ahlstrand, B., Lampel, J., Strategy Safari – Eine Reise durch die Wildnis des strategischen Managements, Ueberreuter 1999

[12] Porter, M.E., Competitive Strategy – Techniques for Analyzing Industries and Competititors, The Free Press 1980

[13] Rappaport A., Creating Shareholder Value – The New Standard for Business Performance, The Free Press 1986

[14] Kirsch, W., Roventa, P. (Hrsg.), Bausteine des Strategischen Managements – Dialoge zwischen Wissenschaft und Praxis, De Gruyter, 1983

[15] Ronstadt, R.C., Entrepreneurship – Text, Cases and Notes, Lord Publishing 1984

[16] Gladstone, D.J., Venture Capital Handbook – An Entrepreneur’s Guide to Obtaining Capital To Start a Business, Buy a Business, Or Expand An Existing Business, Reston Publishing 1983

[17] Servatius, H.G., New Venture Management – Erfolgreiche Lösung von Innovationsproblemen für Technologie-Unternehmen, Gabler 1988

[18] Simon, H.A., The Sciences of the Artificial, 2.Aufl., MIT Press 1981 (1.Aufl. 1969)

[19] Brockhoff, K., Forschung und Entwicklung – Planung und Kontrolle, Oldenbourg 1988

[20] Zäpfel, G., Strategisches Produktionsmanagement, De Gruyter Oldenbourg 2000

[21] Zahn, E. (Hrsg.), Handbuch Technologie-Management, Schäffer-Poeschel 1995

[22] Servatius, H.G., Piller, F.T. (Hrsg.), Der Innovationsmanager – Wertsteigerung durch ein ganzheitliches Innovationsmanagement, Symposion 2014

[23] Servatius, H.G., Dreifache strategische Neuausrichtung, In: Competivation Blog, 07.06.2024

[24] Osterwalder, A., Pigneur, Y., Business Model Generation – A Handbook for Visionaries, Game Changers, and Challengers, Wiley 2010

[25] Mc Afee, A., The Geek Way – The Radical Mindset That Drives Extraordinary Results, Macmillan Business 2023

[26] Ries, E., The Lean Startup – How Today’s Entrepreneurs Use Continuous Innovation to Create Radically Successful Businesses, Crown Currency 2011

[27] Rogers, D.L., The Digital Transformation Roadmap – Rebuild Your Organization for Continuous Change, Columbia Business School Publishing 2023

[28] Brüntjen, J.S., Narat, I., Maisch, M., Kursbebeben erschüttert Nvidia. In: Handelsblatt, 26.Juni 2024, S.30-31

[29] Kaufmann, T. Servatius, H.G., Das Internet der Dinge und Künstliche Intelligenz als Game Changer – Wege zu einem Management 4.0 und einer digitalen Architektur, Springer Vieweg 2020, S.203 ff.

Generative KI und ein Mass Customized Action Learning

Generative KI und ein Mass Customized Action Learning

Neue Technologien wie die generative Künstliche Intelligenz (KI) und das Spatial Computing verändern die Arbeitswelt. Das deutsche Bildungs- und Weiterbildungssystem ist auf diesen Wandel nicht gut vorbereitet. Eine verbindende Strategie 5.0 strebt an, dass Organisationen diese Defizite gemeinsam mit innovativen Bildungsanbietern und der Politik überwinden.

 

In diesem Blogpost erläutere ich den möglichen Beitrag eines Mass Customized Action Learning zur Bewältigung des Wandels der Arbeitswelt.

 

Chancen und Risiken für Arbeitskräfte aufgrund der generativen KI

Wohl kaum ein Technologiethema hat in den letzten Jahren einen ähnlichen Hype ausgelöst wie die generative KI mit großen Sprachmodellen z.B. Generative Pre-Trained Transformer (GPT). Microsoft kommt das Verdienst zu, die Bedeutung dieses Trends frühzeitig erkannt, beträchtliche Summen in den GPT-Entwickler OpenAI investiert und damit begonnen zu haben, die Generative Artificial Intelligence (GenAI) in sein vorhandenes Produktprogramm zu integrieren. Das Gamechanger-Potenzial dieser Entwicklung erscheint noch bedeutender als wir in unserem 2020 erschienenen Buch geahnt haben.1 Wie sich die Spielregeln des Wettbewerbs zwischen Unternehmen und Wirtschaftsräumen verändern, ist heute noch nicht abzusehen. Von entscheidender Bedeutung wird dabei sein, die richtige Balance zwischen Innovation, Regulierung und der Befähigung der Mitarbeitenden zu finden.2 Den Experten für generative KI bietet der Arbeitsmarkt schon heute erhebliche Chancen. So könnten Autobauer die eigene Softwareentwicklung um bis zu 55 Prozent beschleunigen und gleichzeitig die Kosten um bis zu 95 Prozent senken.3

Nach einer internationalen Umfrage der Boston Consulting Group (BCG) gehen aber 40 Prozent der 12800 befragten Arbeitnehmer und Führungskräfte in 18 Ländern davon aus, dass ihr Tätigkeitsfeld künftig aufgrund von KI wahrscheinlich nicht mehr existieren wird.4 Experten prognostizieren, der Arbeitsmarkt befinde sich am Beginn eines Veränderungsprozesses, bei dem sich drei Entwicklungen überlagern:

  1. Durch KI entfällt eine Reihe von Jobs. Daher stellt sich die Frage, welche Arbeiten die dort Beschäftigten in der Zukunft übernehmen sollen.
  2. Es entsteht eine Vielzahl neuer Formen der Zusammenarbeit zwischen Menschen und Künstlicher Intelligenz. Dies betrifft die Mehrzahl der Branchen und traditionellen Funktionen.
  3. Es bilden sich völlig neue Tätigkeitsfelder heraus. Für alle drei Entwicklungen gilt es, geeignete Formen der Aus- und Weiterbildung zur finden.

Diese Entwicklungen haben ein großes Potenzial für sozialen Sprengstoff. Ein technologischer Umbruch, der tiefgreifender sein könnte als die industrielle Revolution, erscheint möglich. Daher wäre es wichtig, dass sich das deutsche Aus- und Weiterbildungssystem diesem Wandel stellt und praktikable Lösungen entwickelt.

Bevor ich hierauf näher eingehe, stellt sich die Frage, was die Kennzeichen der Strategie 5.0 von Microsoft sind.

 

Microsofts Strategie 5.0

Als Strategie 5.0 bezeichnen wir die fünfte Entwicklungsstufe eines konnektiven strategischen Managements.5 Microsoft ist einer der weltweiten Vorreiter dieses bislang letzten Evolutionsschrittes, der die vorherigen Stufen verbindet. In der folgenden Abbildung sind Gründe für den Erfolg von Microsoft zusammengefasst.6

 

Lernprozess Innovationsstrategie

 

Der erste Grund liegt in der Ausbildung, Persönlichkeit und dem Mindset des indischstämmigen CEO Satya Nadella, einer Führungskraft, die deutlich weniger narzisstisch geprägt ist als sein Vorgänger.7 Unmittelbar nach seinem Amtsantritt hat Nadella einen Turnaround mit harten Einschnitten begonnen. Entscheidend ist dabei seine Bereitschaft gewesen, eigene Einstellungen zu hinterfragen und neue Wege zu gehen (Growth Mindset).8

Hinzu kommt als weiterer wichtiger Grund die Verbesserung der Beziehungen zu Partnern innerhalb des Business Ecosystems von Microsoft verbunden mit Investitionen in das Cloud-Geschäft. Typisch für seine erfolgreiche Strategie 5.0 ist ein neuer Kurs gegenüber Stakeholdern insbesondere aus den Bereichen Politik und Regulierung gewesen. Heute sucht Microsoft mit Regulierern eher den handlungsorientierten Dialog.9

Parallel dazu hat das Unternehmen seine eigene Forschung beim Thema KI massiv ausgebaut. Der Durchbruch bei großen Sprachmodellen ist dann aber aus der Zusammenarbeit mit dem anfangs eher unbekannten Start-up OpenAI entstanden. Gegenwärtig integriert Microsoft die Technologien von OpenAI in die eigenen Produkte und bindet so seine Kunden (Vendor Lock-in). Die Vision ist, der führende Anbieter von digitalen persönlichen Assistenten zu werden. Dieses Ziel verfolgt Microsoft mit einer freundlichen Fassade und einem gleichzeitigen Ausbau seiner Marktmacht.

Neben der generativen KI gibt es mit dem Spatial (räumlichen) Computing eine weitere neue Technologie, die gravierende Auswirkungen auf den Wettbewerb und den Arbeitsmarkt haben könnte.

 

Neue Formen der Interaktion mit dem Spatial Computing

Der bereits 2003 von dem MIT-Forscher Simon Greenworld geprägte Begriff Spatial Computing ist durch die Vorstellung der innovativen Datenbrille Apple Vision Pro bekannt geworden. Der CEO von Apple Tim Cook verfolgt das Ziel, mit diesem Mixed Reality Headset ein neues Zeitalter der Interaktion von digitaler Sphäre und realer Umgebung einzuläuten. Experten glauben, dass der heute noch von der Meta-Tochter Oculus dominierte Markt für XR-Brillen bis 2026 von 41,2 auf 100,8 Milliarden US-Dollar wachsen wird.10 An diesem Wachstum möchte Apple partizipieren.

Die Erfolgsgeschichte des Unternehmens basiert auf seinem einzigartigen Stakeholder-Ökosystem mit dem iPhone als Ankerprodukt eines Schwungrades (Flywheel), das aus den Komponenten User, App, Entwickler und eigenem Betriebssystem besteht. Auf diese Weise ist auch Apple zu einem der Vorreiter der fünften Entwicklungsstufe eines verbindenden strategischen Managements geworden.11 Diese Strategie 5.0 möchte Cook nun mit der ersten neuen Plattform in seiner Amtszeit fortschreiben.

Das ist aber nicht ohne Risiken. Im Unterschied zu den früheren Erfolgsprodukten haben sich für neuartige Datenbrillen noch keine großvolumigen Anwendungsfelder herausgebildet. Apple setzt darauf, die Sensor-Ausstattung des iPhones mit Lidar-Lasertechnologie und über 14000 Apps auf sein Mixed-Reality-Headset zu übertragen. Damit wäre das Unternehmen auf eine Zeit vorbereitet, in der Datenbrillen das Smartphone als wichtigstes persönliches Gerät ergänzen.12

Parallel dazu arbeitet Apple an einer Gegenstrategie zu generativen KI-Lösungen in der Cloud, die Microsoft gemeinsam mit dem GPT-Entwickler OpenAI vorantreibt. Dies soll mit Hilfe von Chips gelingen, die nach dem Prinzip der Model Compression arbeiten, um die Algorithmen so einzudampfen, dass sie in die Apple-Produkte passen. Die nächsten Jahre werden zeigen, wie der Wettbewerb zwischen den Digitalgiganten und ihren Stakeholder-Ökosystemen um die beste verbindende Strategie 5.0 weitergeht.

Eine spannende Frage ist, welche Rolle dabei SAP, das wertvollste deutsche Unternehmen, spielen wird. Der SAP-Chef Christian Klein braucht eine klare Roadmap für die Integration von generativer KI in die Enterprise Resource Planning (ERP-) und Customer Relationship Management (CRM-) Systeme der Zukunft. Eine wichtige Rolle in seiner Strategie spielen Kooperationen und das 2021 übernommene Business Process Intelligence (BPU-) Unternehmen Signavio.13

Insgesamt stellt sich für europäische Unternehmen die Aufgabe, die zunehmende Abhängigkeit von großen Tech-Konzernen zu verringern. Die Suche nach Lösungen sollte mit einer kritischen Ursachenanalyse der Probleme beginnen.

 

Geschwächte strategische Resilienz von Organisationen

Eine solche Ursachenanalyse führt zu der These, dass sich in den letzten Jahrzehnten Defizite bei den Entwicklungsstufen des strategischen Managements und der Managementausbildung wechselseitig verstärkt haben. Diese Fehlentwicklung besteht seit der ersten Strategiestufe mit ihrem Fokus auf Kostensenkungen und einem Outsourcing wichtiger Funktionen. Dies hat zu einem Rückgang der Lernfähigkeit von Organisationen aufgrund der zunehmenden Abhängigkeit von Management- und Politikberatungen geführt.14

Der zweite Defizitbereich ist, dass die Managementausbildung über einen langen Zeitraum insbesondere an Universitäten zu wenig interdisziplinär und praxisorientiert gewesen ist. Die meisten deutschen Hochschulen haben auch die Führungskräfte- und Personalentwicklung bei neuen Managementthemen vernachlässigt. Das Ergebnis dieses Wechselspiels ist eine geschwächte strategische Resilienz (Widerstandsfähigkeit) von Organisationen bei der Krisenbewältigung und Chancennutzung.

 

Lernprozess Innovationsstrategie

 

Anschauungsmaterial hierfür liefern die Schwierigkeiten von etablierten Unternehmen und öffentlichen Verwaltungen bei der Gestaltung des digitalen Wandels. Obwohl seit langem bekannt ist, dass erfolgreiche Tech-Unternehmen dabei auf eine zentrale Plattformorganisation mit agilen Teams und ein Stakeholder-Ökosystem setzen, gelingt es den meisten traditionellen Unternehmen nicht, dieses innovative Organisationskonzept an ihre spezifische Situation anzupassen.15 Der große Defizitbereich ist dabei eine zeitgemäße Governance zur Verbindung der Organisationsbausteine.

Eine der Ursachen hierfür ist, dass viele Betriebswirtschaftsstudenten nur begrenzte Programmierfähigkeiten erwerben, was die Zusammenarbeit mit Ingenieuren und Informatikern beim agilen Projektmanagement erschwert. Das Ergebnis sind Defizite von Unternehmen bei der Digitalisierung ihrer Geschäftsprozesse. Diese komplexe Aufgabe erfordert ein Zusammenspiel der Themen

  • Geschäftsmodell-Innovation
  • Wandel der Organisation von funktional zu prozessorientiert (Reengineering)
  • Wandel der IT-Architektur
  • KI-basierte Softwareunterstützung von Prozessen (Business Process Intelligence)
  • Neugestaltung des Datenmanagements sowie
  • organisatorisches und individuelles Lernen.

Auf eine Bewältigung dieser interdisziplinären Herausforderung sind die meisten traditionellen Studiengänge nicht ausgerichtet. Analysen in Unternehmen zeigen, dass der wichtigste Faktor, der die Anwendung von Künstlicher Intelligenz hemmt, das fehlende Know-how der Fachkräfte ist.

Ein möglicher Ausweg aus diesem Dilemma wäre die Kooperation von Unternehmen und Verwaltungen mit innovativen Bildungsanbietern. Im Folgenden erläutern wir zunächst die Schritte zur organisationsspezifischen Weiterbildung im Rahmen einer solchen Zusammenarbeit. Ein aktuelles Beispiel aus der Hochschullehre dient hierbei als Einstieg.

 

Schritte bei einer organisationsspezifischen Weiterbildung

Eine Prüfungsleistung im Fach Innovationsmanagement für Studierende der zur Klett Gruppe gehörenden CBS International Business School besteht in diesem Jahr in der Gestaltung von Lösungen für die Interaktion von Menschen mit generativer KI. Die Studierenden haben sehr schnell die Relevanz des Themas für ihre zukünftige Entwicklung erkannt und eine Vielzahl kreativer Ansätze erarbeitet.

Diese Aufgabenstellung lässt sich von der Ausbildung Studierender auf eine spezifische und gleichzeitig skalierbare Weiterbildung in Organisationen übertragen.16 Ein entsprechendes Konzept besteht aus den in der Abbildung dargestellten vier Schritten. Dieses Konzept ist auch bei anderen neuen Managementthemen anwendbar.

 

Lernprozess Innovationsstrategie

 

Der erste Schritt ist die Entwicklung von relevanten Modulen für die Führungskräfte- und Personalentwicklung bei neuen Managementthemen. Auf diese Weise entsteht ein zusammensetzbarer Modulbaukasten, bei dem einzelne Microlearnings kombinierbar sind. Die Module eignen sich für interdisziplinäre Zielgruppen z.B. im Rahmen eines agilen Projektmanagements. Eine hybride Lehre verbindet Präsenz- und Online-Formate.

Hieran schließt sich im Schritt zwei eine Analyse der Ausgangssituation und der spezifischen Herausforderungen der jeweiligen Organisation an. Diese Arbeit beginnt mit der Bildung eines gemeinsamen Projektteams. Erfahrene Managementtrainer unterstützen die Klientenorganisation bei der Situationsanalyse. Auf dieser Grundlage entwickelt das Team ein maßgeschneidertes Konzept für ein handlungsorientiertes Lernen (Action Learning). Zielsetzung des Action Learning ist die Verbindung einer konkreten Problemlösung mit Lernprozessen der beteiligten Akteure.

Die Anpassung (Customization) der Lerninhalte und des Vorgehens an die spezifischen Herausforderungen findet in Schritt drei statt. Diese Arbeit beginnt mit einer Beschreibung der relevanten Zielgruppen der Organisation. Die Kernaufgabe in diesem Schritt ist eine Integration spezifischer Lerninhalte. Die Ableitung von Lernzielen und Ergebnissen kann mit Hilfe der Objectives and Key Results (OKR-) Methode erfolgen.

Den Abschluss bilden in Schritt vier die gemeinsame Durchführung von Action Learning-Programmen, eine Erfolgskontrolle und die Planung der nächsten Schritte. Eine wichtige Rolle spielt hierbei die Verbindung von Lern- und Handlungseinheiten. Innovative Lerntechnologien unterstützen eine erfolgsabhängige Nachbereitung. So kann die Organisation ihre Action-Learning-Reise fortsetzen.

 

Corporate Venture Management von Bildungsanbietern und EdTech Start-ups

Der Verband der Hochschullehrerinnen und Hochschullehrer für Betriebswirtschaftslehre (VHB) zeichnet in einer 2021 erschienenen Buchpublikation ein sehr positives Bild der BWL in Deutschland.17 Dabei wird aber ein wichtiger Aspekt ausgeblendet: Die Managementweiterbildung ist reif für eine Disruption durch stärker interdisziplinäre und praxisorientierte Bildungsanbieter, die zwischen der Informatik sowie den Ingenieur- und Wirtschaftswissenschaften Brücken schlagen.18 Kompetenzdefizite von Organisationen z.B. bei den Themen Digitalisierung und Nachhaltigkeit nutzen gegenwärtig Management- und Politikberatungen, deren Dienstleitungen allerdings nicht primär auf die Personalentwicklung ausgerichtet sind. Die entstandene Lücke könnte ein Corporate Venture Management von Bildungsanbietern und Educational Technology (EdTech) Start-ups schließen. Ein Treiber dieser Entwicklung ist der Megatrend Konnektivität mit seiner technischen und seiner Management-Dimension.19

Beim Corporate Venture Management beteiligen sich etablierte Unternehmen an Start-ups, um die Vorteile von Erfahrung, Kapitalkraft und Innovationsfähigkeit zu verbinden.20 Dieser Ansatz ist in Deutschland mit erheblicher Verzögerung angekommen, erfreut sich inzwischen aber wachsender Beliebtheit.

Der größte private Bildungsanbieter in Deutschland ist die Klett Gruppe. Zur Klett Gruppe gehören auch Hochschulen, für die ich seit über einem Jahrzehnt als externer Dozent tätig bin. Diese sind mit praxisorientierten Bachelor- und Masterprogrammen sehr erfolgreich. Deutlich schwerer tun sich deutsche Bildungsanbieter mit den Märkten für eine Customized Management Education und Massive Open Online Courses (MOOC). Eine erfolgversprechende Strategie könnten Bildungsanbieter gemeinsam mit Managementtrainern und EdTech Start-ups realisieren. In eine solche Partnerschaft bringen z.B. Anbieter von dualen Studiengängen ihr Dozentennetzwerk mit vorhandenen Lehrinhalten und gute Geschäftsbeziehungen zu einer Vielzahl häufig mittelständischer Arbeitgeber der dual Studierenden ein. Bei diesen dualen Studiengängen ist vom ersten Tag an eine enge Verbindung zwischen Theorie und Praxis gewährleistet.

So vermitteln wir z.B. den Wirtschaftsingenieur-Studenten der CBS gleich zu Beginn ihrer Ausbildung ein ganzheitliches Verständnis der Funktionsweise von innovativen Geschäftsmodellen und erfolgreichen agilen Organisationen. Anhand von praktischen Beispielen erläutern wir verschiedene Laufbahnmodelle wie die Fachlaufbahn und die Führungslaufbahn. Eine wichtige Ergänzung hierzu ist das Testen der Talentleitmotive der Studierenden, die so eine Orientierung erhalten, welche persönlichen Spezialisierungen für sie passend sind.21 Angesichts des Fachkräftemangels ist dieses Angebot der Hochschule für die Arbeitgeber der dualen Studenten eine gute Differenzierungsmöglichkeit im Personalmarketing.

Der Fachkräftemangel ist auch ein wichtiger Treiber der Entwicklung des weltweiten EdTech-Marktes, für den Experten bis 2030 ein jährliches Wachstum von 13,6 Prozent auf 348,4 Milliarden US-Dollar prognostizieren. Dieser Markt ist stark durch Start-ups geprägt. So haben Venture Capital-Unternehmen 2020 allein in den USA 1,78 Milliarden US-Dollar in junge, auf Educational Technology spezialisierte Unternehmen investiert.

Universitäten sollten die skizzierten Disruptionsherausforderungen des Bildungsmarktes als Chance zur eigenen Weiterentwicklung begreifen. Innovative Technologien wie die generative KI und das Spatial Computing sind ein Anlass, über eine grundlegende Neuausrichtung der Aus- und Weiterbildung von Informatikern, Ingenieuren und Betriebswirten nachzudenken. Die verbindende fünfte Entwicklungsstufe des strategischen Managements liefert hierfür den passenden Rahmen. Bei einer solchen Neuausrichtung ist die jeweilige strategische Ausgangssituation der Universität in den Segmenten Customized Management Education und MOOC-Plattformen zu berücksichtigen.

Eine Möglichkeit zur Weiterentwicklung wäre z.B. die Etablierung von Lehrunternehmen in der Region, mit denen Universitäten kooperieren. In der Medizin spielen Lehrkrankenhäuser eine wichtige Rolle bei der Aus- und Weiterbildung von Ärzten. Ein ähnliches Konzept könnte für die Managementlehre entstehen. Dabei ergänzen erfahrene Praktiker aus Unternehmen und Verwaltungen die meist sehr theoretisch orientierten Universitätsprofessoren. Ein Teil der Aus- und Weiterbildung würde von den Universitäten in die Lehrunternehmen verlagert. Das Ziel dieses Ansatzes wäre, eine Win-Win-Situation für beide Seiten zu schaffen.

Im Folgenden skizzieren wir kurz die klassische Customized Management Education und die rasante Entwicklung von Plattformen für Massive Open Online Courses (MOOC). Hieraus leiten wir die Vorteile eines Mass Customized Action Learning (MCAL) in der Managementaus- und -weiterbildung ab.

 

Entwicklung zu einem Mass Customized Action Learning

Eine bedeutende Rolle bei der organisationsspezifischen Weiterbildung von Führungskräften großer Unternehmen spielen internationale Business Schools. An der Spitze des Ranking der Financial Times für 2023 im Segment „Executive Education Custom“ liegt Duke Corporate Education gefolgt von Insead, HEC Paris und IESE.22 Immerhin hat es die Berliner ESMT auf Rang fünf geschafft. Unter den besten 75 Anbietern weltweit finden sich drei weitere Business Schools aus Deutschland. Allerdings machen die begrenzte Anzahl von Kursteilnehmern und die Preispolitik der Hochschulen eine breit angelegte Weiterbildung von Mitarbeitern z.B. beim Thema generative KI nahezu unmöglich. Eine Alternative hierzu sind MOOC-Plattformen.

Im Oktober 2011 haben Stanford-Forscher drei kostenlose Onlinekurse veröffentlicht. Jeder dieser Kurse erreichte mehr als 100000 Lernende und die Medien prägten den Begriff MOOC. Inzwischen bieten über 1200 Hochschulen weltweit öffentlich Onlinekurse an. Parallel dazu sind global tätige MOOC-Plattformen wie Coursera, EdX und FutureLearn sowie eine Vielzahl nationaler Anbieter von MOOC-Plattformen entstanden. Bis 2021 haben weltweit mehr als 220 Millionen Lernende mindestens einen MOOC belegt.23

Der Nachteil dieser relativ kostengünstigen Alternative zu traditionellen Business Schools war in der Vergangenheit, dass keine Anpassung an die spezifischen Bedürfnisse eines Einzelnen oder einer Organisation erfolgt ist. Das ändert sich gerade. Eine Kombination der Vorteile der beiden Lernwelten des Managements erscheint mit Hilfe des Mass Customized Action Learning erreichbar. Diese hybride Lernform verknüpft Elemente des Präsenz- und des Onlinelernens.

 

Lernprozess Innovationsstrategie

 

In der Industrie verbindet das Anfang der 1990er Jahre von Joseph Pine entwickelte Konzept der Mass Customization die Vorteile der Massenproduktion mit kundenindividuellen Produkten und Dienstleistungen.24 Wichtige Impulse für eine Weiterentwicklung der kundenindividuellen Massenproduktion sind von dem Aachener BWL-Professor und Mitgründer von Competivation Frank Piller ausgegangen.25 Dieses Konzept ist auf die Managementaus- und -weiterbildung übertragbar. Hier überwindet es die Nachteile der Customized Management Education und der MOOC-Plattformen. Ein Anwendungsfokus könnte bei neuen Managementthemen wie der generativen KI liegen, bei der ein Up- und Re-Skilling einer großen Anzahl von Mitarbeitenden in Organisationen erforderlich ist, die unterschiedliche individuelle Lernbedürfnisse haben. Koordinatoren eines solchen Mass Customized Action Learning (MCAL) für das Management sind die Organisationen selbst gemeinsam mit innovativen Bildungsanbietern, die zunehmend generative KI einsetzen. Eine entscheidende Rolle spielt dabei das handlungsorientierte Lernen aller Akteure, die sich mit ihren Kompetenzen in die Prozesse einbringen. Auf diese Weise erlebt das Action Learning eine Weiterentwicklung und Anpassung an aktuelle Herausforderungen.26

Ein Beispiel für die Anwendung von generativer KI durch MOOC-Plattformen liefert die in den USA ansässige Khan Academy, die mit ihren Khamingo-Programmen auf der Basis von ChatGPT jedem Lernenden einen persönlichen Tutor und jedem Lehrer einen persönlichen Assistenten anbietet. In Singapur hat das Bildungsministerium die sich hieraus ergebenden Chancen erkannt und stellt Pädagogen die erforderlichen Ressourcen zur Verfügung.27 Dies zeigt das Potenzial eines Mass Customized Action Learning für Zielgruppen von der Grundschule bis zu Führungskräften.

Unsere Erfahrungen mit der Anwendung dieses Konzepts bei einer Reihe neuer Managementthemen sind bislang sehr positiv. Neben dem Erfahrungsaustausch mit weiteren Klientenorganisationen und ihren entstehenden Strategie 5.0-Laboren28 sind wir am Ausbau unseres Innovationsökosystems zu diesem spannenden Thema interessiert. Ein Vorbild ist die von Max Viessmann initiierte Netzwerk-Plattform Maschinenraum mit Sitz in Berlin, wo Familienunternehmen, Start-ups und deutsche Risikokapitalgesellschaften zusammenarbeiten.

 

Generative KI als Anwendungsfeld und Ermöglicher neuer Lernformen

Im Folgenden fassen wir Gründe zusammen, warum das Mass Customized Action Learning für die Weiterbildung von Personen, Teams und großen Gruppen gut geeignet erscheint. Die generative KI ist dabei sowohl Anwendungsfeld als auch Ermöglicher. Diese Begründung sollte auch Zweifler überzeugen, die gemeinsamen Anstrengungen zu erhöhen.

Ein wichtiger Aspekt ist, dass die hohe Dynamik der generativen KI eine laufende Weiterentwicklung der Lerninhalte erforderlich macht. Der notwendige Austausch mit führenden Wissenschaftlern, Politikern und Medien ist von einem einzelnen Managementtrainer kaum zu leisten. Daher wäre es wirtschaftlich sinnvoll, dass die Lehrenden ihre Lerninhalte gemeinsam mit persönlichen GenAI-basierten Assistenten aktualisieren.

Der weltweit große Bedarf an Aus- und Weiterbildung zum Thema generative KI rechtfertigt Investitionen von Bildungsanbietern, wenn deren Geschäftsmodelle ein Erfolgspotenzial haben. Unter den Anbietern wird sich der Wettbewerb verschärfen. Es bleibt abzuwarten, welche Kooperationsmodelle sich dabei durchsetzen.

Das Nutzenversprechen der Mass Customization gegenüber One size fits all-Ansätzen ist, dass es wirtschaftlich gelingt, die Lerninhalte und das Vorgehen sowohl auf der individuellen Ebene der Lernenden als auch auf der Organisationsebene mit Hilfe von GenAI-basierten Tutoren an die spezifischen Bedingungen der Kunden anzupassen. Ein Ermöglicher dabei sind innovative Lerntechnologien. Dies spricht für die Zusammenarbeit von Bildungsanbietern mit EdTech Start-ups und KI-Unternehmen.

Außerdem eignet sich das Thema gut für eine Verbindung von Lernen und Handeln. Dieses Potenzial schöpft das Action Learning aus, bei dem Lehrende und Lernende ihre Kompetenzen einbringen. Daher sollte auch die Weiterbildung der Managementtrainer eine hohe Priorität haben.

Auch die Lehrenden erweitern mit jedem Projekt ihre Erfahrungen. Deshalb ist ein großes Netzwerk an qualifizierten Managementtrainern für den Bildungsanbieter ein wichtiger Wettbewerbsvorteil.

Natürlich haben auch die internationalen Managementberatungen die Chancen erkannt, die der entstehende Markt für sie eröffnet. Eine bessere Befähigung von Organisationen und Mitarbeitenden verringert jedoch die Abhängigkeit von Consultants und erhöht die eigene Resilienz. Dies spricht dafür, stärker auf neue Formen der Weiterbildung zu setzen.

 

Erfinderland auf der Verliererstraße?

Es ist relativ wenig bekannt, dass wichtige theoretische Grundlagen der generativen KI bereits in den 1990er Jahren von dem deutschen Informatik-Professor Jürgen Schmidthuber und seinem Team an der TU München gelegt worden sind. Als derjenige, der das Rennen um Bildgeneratoren schon vor OpenAI gestartet hat, gilt Professor Björn Ommer, der an der Ludwig-Maximilians-Universität München forscht und den Bildgenerator Stable Diffusion entwickelt hat. Hieraus ist das bei Open-Source-KI führende Start-up StabilityAI entstanden, das bei der letzten Finanzierungsrunde mit einer Milliarde Dollar bewertet worden ist.29 Wie auch in anderen Technologiefeldern kommen wichtige Erfinder im Bereich der generativen KI also aus Deutschland.

Umso bedauerlicher ist das bereits in unserem Buch zum Thema KI behandelte Versagen der deutschen Politik.30 Zwar hat 2018 die damalige Bundesregierung Ansätze zu einer nationalen KI-Strategie formuliert, die 2020 fortgeschrieben worden ist. Die Opposition wirft der Ampel-Koalition vor, das Thema generative KI verschlafen zu haben. Jörg Bienert vom KI-Bundesverband kritisiert die fehlende Koordination und fordert eine abgestimmte Position am besten ausgehend vom Kanzleramt. Das Bundesforschungsministerium hat inzwischen einen Aktionsplan vorgelegt, den Experten als zu schwammig und zu wenig umsetzungsorientiert kritisieren. Im Unterscheid zu dem nicht erfolgversprechenden Auftreten der deutschen Politik positioniert der britische Premierminister Rishi Sunak sein Land als Alternative zu den als zu drakonisch empfundenen KI-Regeln der EU und dem Laissez-faire-Verhalten der USA.31

Eine Möglichkeit für Deutschland und die EU, diese Verliererstraße zu verlassen, wäre die verbesserte Zusammenarbeit von Wissenschaft, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft im Rahmen eines verbindenden innovations-, wirtschafts- und bildungspolitischen Narrativs.32 Leider ist eine solche KI-Strategie 5.0 der Politik gegenwärtig nicht einmal in Ansätzen erkennbar.

 

Unternehmen, die dabei sind aufzuholen

Trotz der Defizite der Politik gibt es auch in Deutschland beim Thema generative KI Unternehmen, die dabei sind aufzuholen. Hierzu gehört z.B. Bosch, wo man gemeinsam mit dem Heidelberger Start-up Aleph Alpha an einem eigenen Sprachmodell arbeitet, das mit Unternehmensdaten gefüttert wird. Die bei Bosch verantwortliche Geschäftsführerin Tanja Rückert betrachtet die KI als Schlüsseltechnologie und Innovationsbooster.

Um das Vertrauen in generative KI zu stärken, hat Bosch konzernintern das Start-up AI-Shield initiiert. Dessen Schutzschild analysiert die Benutzereingaben und sorgt dafür, dass Unternehmensrichtlinien eingehalten werden.

Eine zentrale Rolle spielt dabei die Weiterbildung in großem Maßstab. So hat Bosch bereits 26500 Mitarbeiter in KI geschult.33 Auch andere Unternehmen starten gegenwärtig eine Weiterbildungsoffensive. Hierbei setzt Vodafone auf individualisierte Angebote, die eine neue Lernplattform vorschlägt.34 Ansätze wie diese nähren die Hoffnung, dass einige Unternehmen in Deutschland eben nicht auf der Verliererstraße sind, sondern angefangen haben, das Anwendungspotenzial der generativen KI auszuschöpfen.

 

Fazit

  • Durch die generative KI verändert sich der Arbeitsmarkt grundlegend. Dies erfordert geeignete Formen der Aus- und Weiterbildung.
  • Ein Vorreiter sowohl bei der fünften Entwicklungsstufe des strategischen Managements (Strategie 5.0) als auch beim Thema generative KI ist Microsoft.
  • Der Strategie 5.0-Vorreiter Apple plant, mit seinem neuen Mixed Reality Headset das Smartphone als wichtigstes persönliches Gerät zu ergänzen. Zwischen den großen Digitalunternehmen verschärft sich der Wettbewerb.
  • Diese Entwicklungen treffen in Deutschland auf Organisationen, deren strategische Resilienz geschwächt ist. Hierzu haben Defizite in der Managementaus- und -weiterbildung beigetragen.
  • Ein Lösungsansatz ist die verbesserte Customized Management Education. Zu diesem Ansatz haben wir ein bewährtes Vorgehenskonzept beschrieben.
  • Eine wichtige Rolle kann dabei die Zusammenarbeit von Bildungsanbietern mit Managementtrainern und EdTech Start-ups spielen.
  • Ein Mass Customized Action Learning wird durch generative KI ermöglicht, die gleichzeitig ein Anwendungsfeld für die neue Lernform ist.
  • Deutschland braucht dringend eine grundlegende überarbeitete KI-Strategie, die die Politikfelder Innovation, Wirtschaft und Bildung verbindet.
  • Unternehmen die aufholen zeigen, wie notwendig beim Thema KI eine Weiterbildungsoffensive ist.

 

Literatur

[1] Kaufmann, T., Servatius, H.G.: Das Internet der Dinge und Künstliche Intelligenz als Game Changer – Wege zu einem Management 4.0 und einer digitalen Architektur, Wiesbaden 2020

[2] Anger, H. et al.: Unternehmer fordern rasche Regulierung. In: Handelsblatt, 13. Juni 2023, S. 8-9

[3] Hubik, F., Tyborski, R.: KI könnte Software-Dilemma lösen. In: Handelsblatt, 12. Juni 2023, S. 20

[4] Klöckner, J., Specht, I.: Die Angst der Deutschen vor KI. In: Handelsblatt, 7. Juni 2023, S. 8-9

[5] Servatius, H.G.: Strategisch führen mit kontextueller und beziehungsorientierter Intelligenz. In: Competivation Blog, 14.03.2023

[6] Kerkmann, C., Scheuer, S.: Alles eine Frage der Einstellung. In: Handelsblatt, 14./15./16. Juli, S. 42-49

[7] Kets de Vries, M.: The Leader on the Couch – A Clinical Approach to Changing People and Organizations, Chichester 2006

[8] Dweck, C.: Mindset – The New Psychology of Success, New York 2006

[9] Hemmati, M.: Multi-Stakeholder Processes for Governance and Sustainability – Beyond Deadlock and Conflict, London 2002

[10] Scheuer, S.: Apples nächste große Wette. In: Handelsblatt, 7. Juni 2023, S. 24-25

[11] Servatius, H.G.: Strategie 5.0 zur Bewältigung der neuen Herausforderungen. In: Competivation Blog, 28.06.2022

[12] Rest, J.: Knall oder Fall. In: Manager Magazin, Juni 2023, S. 24-30

[13] Kyriasoglou, C.: Cloud und leise. In: Manager Magazin, August 2023, S. 48-52

[14] Mazzucato, M., Collington, R.: Die große Consulting Show – Wie die Beratungsbranche unsere Unternehmen schwächt, den Staat unterwandert und die Wirtschaft vereinnahmt, Frankfurt 2023

[15] Servatius, H.G.: Die Ressourcen-Plattform mit agilen Teams als neue Organisationsform. In: Competivation Blog, 12.01.2021

[16] Fellenz, M.R., Hoidn, S., Brady, M. (Hrsg.): The Future of Management Education, London 2022

[17] Schwenker, B. et al., Erfolgsfaktor Betriebswirtschaftslehre – Was sie leistet und warum wir sie brauchen, München 2021

[18] Kaufmann, Servatius: a.a.O., S. 81 ff.

[19] Servatius, H.G.: Der Megatrend Konnektivität und seine Treiber. In: Competivation Blog, 26.10.2021

[20] Servatius, H.G.: New Venture Management – Erfolgreiche Lösung von Innovationsproblemen für Technologie-Unternehmen, Wiesbaden 1988

[21] Rath, T., Conchie, B.: Strengths Based Leadership – Great Leaders, Teams, and Why People Follow, New York 2008

[22] Financial Times: Business School Ranking – Executive Education Custom 2023

[23] Shah, D., Pickard, L., Ma, R.: Massive List of MOOC Platforms Around the World, 10. April 2023

[24] Pine, B.J.: Mass Customization – The New Frontier in Business Competition, Boston 1993

[25] Piller, F.T.: Kundenindividuelle Massenproduktion – Die Wettbewerbsstrategie der Zukunft, München 1998

[26] Mc Gill, I., Beaty, L.: Action Learning – A Guide for Professional, Management and Educational Development, 2. Aufl., London 1995

[27] Gillmann, B.: Ein Privatlehrer für jeden Schüler. In: Handelsblatt, 30. Juni/ 1./2. Juli 2023, S. 28

[28] Servatius, H.G.: Fraktale Organisation von Strategie 5.0-Laboren. In: Competivation Blog, 28.03.2023

[29] Böschen, M.: Die Produktivitätsmaschine. In: Manager Magazin, Juli 2023, S. 92-96

[30] Kaufmann, Servatius, a.a.O., S. 205 ff.

[31] Rieke, T.: Auf dem Weg zur technologischen Supermacht. In: Handelsblatt, 4. Juli 2023, S. 14-15

[32] Servatius, H.G.: Auf dem Weg zu einem neuen wirtschaftspolitischen Narrativ. In: Competivation Blog, 16.05.2022

[33] Holzki, L.: Bosch setzt auf eigenes KI-Modell à la ChatGPT. In: Handelsblatt, 11./12./13. August 2023, S. 26-27

[34] Obmann, C.: So werden Ihre Mitarbeiter KI-fit. In: Handelsblatt, 11./12./13. August 2023, S. 52-53

 

Strategisch führen mit kontextueller und beziehungsorientierter Intelligenz

Strategisch führen mit kontextueller und beziehungsorientierter Intelligenz

Die Bewältigung der gegenwärtigen Herausforderungen erfordert von Führungskräften eine Verbindung von kontextueller und beziehungsorientierter Intelligenz. Die hierzu benötigten konnektiven Fähigkeiten sind bis zu einem gewissen Grad erlernbar.

 

In diesem Blogpost erläutern wir weitere wichtige Bausteine der fünften Entwicklungsstufe des strategischen Managements (Strategie 5.0)

 

Wir schaffen das – aber wie?

Das im Zuge der Flüchtlingskrise am 31. August 2012 von der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel Geäußerte: „Wir schaffen das“ ist noch in guter Erinnerung. Leider hat sich in der Folgezeit bei einer Vielzahl großer Herausforderungen gezeigt, dass es keine Antworten auf die Anschlussfrage: „Aber wie?“ gab oder diese nicht erfolgreich waren. Meine These ist, dass man von einem Grundmuster des Misslingens sprechen kann.

Eine solche Situation zeichnet sich gegenwärtig bei den vom Wirtschafts- und vom Bauministerium geplanten ehrgeizigen Vorgaben zur Beschleunigung der Wärmewende ab. Danach soll ab dem Jahr 2024 der Einbau von Gas- und Ölheizungen nicht mehr gestattet sein. Der entsprechende Referentenentwurf hat heftige Proteste unter anderem vom Koalitionspartner FDP, der Opposition, der Wohnungswirtschaft und dem Handwerk ausgelöst. Die Kritiker halten die Vorgaben, die eher an eine Planwirtschaft erinnern als an eine ökologisch-soziale Marktwirtschaft, für nicht umsetzbar.

Kennzeichnend für die ernüchternde Realität ist das Talkshow-Muster einer polarisierenden Kommunikation. Ein Beispiel liefert die Sendung mit Markus Lanz am 31. Januar 2023 im ZDF. Der amtierende Wirtschaftsminister, eine Professorin für Bauphysik und ein Betreiber von Windanlagen unterhalten sich über Probleme bei der Energiewende. Es gibt gute Analysen und es scheinen auch mögliche Lösungsansätze, wie man z.B. die überbordende Bürokratie in den Griff bekommen könnte, auf dem Tisch zu liegen. In Erinnerung bleiben die Bonmots „global schwätzen – lokal verhindern“ und „Windmüller gegen Artenschützer“. Aber dann verebbt die Diskussion – wie eigentlich immer – in kleinteiligen Positionskämpfen auf der Suche nach medialer Aufmerksamkeit.

Was offensichtlich fehlt, ist ein funktionierender Ansatz zur praktischen Lösung der bekannten Probleme unter aktiver Beteiligung der an einer Lösung interessierten Stakeholder. Hier setzt unser Ansatz der fünften Entwicklungsstufe eines verbindenden strategischen Managements an.1 Wir wollen kurz skizzieren, was an einer solchen Strategie 5.0 neu ist.

 

Was ist das Neue an einer Strategie 5.0?

In meinen letzten Blogposts zum Thema Strategie 5.0 habe ich erläutert, wie sich die ersten vier Stufen verbinden und weiterentwickeln und wie dabei eine fünfte Stufe entstanden ist, die sich selbst in einem dynamischen Veränderungsprozess befindet. Ein Beispiel liefert die Stufe drei eines nachhaltigkeitsorientierten strategischen Managements. Angesichts der Irrwege beim ESG-Investing und bei der EU-Taxonomie zeichnet sich hier das Konzept der nachhaltigen Wertsteigerung mit einem neuen Reporting für den strategischen Wandel ab.

Ein weiteres Beispiel ist die generative Künstliche Intelligenz (KI) z.B. mit ChatGPT, die gegenwärtig die zweite Entwicklungsstufe eines technologie- und innovationsorientierten strategischen Managements verändert. Wir sprechen daher von einer Koevolution der früher entstandenen Entwicklungsstufen. Wie bei diesen unterscheiden wir zwischen Grundlagen und Charakteristika. Wichtige Grundlagen der fünften Stufe sind:

  • die Erkenntnis, dass es sich bei Barrieren zwischen Stakeholdern wie z.B. bei der Energiewende um ein „bösartiges“ (wicked) Problem handelt
  • der Megatrend einer technischen Konnektivität z.B. bei digitalen Technologien wie dem Artificial Internet of Things (AIoT)2
  • die zunehmende Bedeutung von Konnektivität im Management mit Lösungsansätzen wie einer verbindenden Führung3 und
  • die in der Praxis noch wenig bekannte Theorie komplexer responsiver Beziehungsprozesse.

Wicked Problems und Complex Responsive Processes of Relating wollen wir hier kurz erläutern.

 

Lernprozess Innovationsstrategie

 

Der Begriff Wicked Problem wurde 1973 von den Professoren für Design und Stadtplanung Horst Rittel und Melvin Webber an der Berkeley-Universität geprägt. Diese „bösartigen“ Probleme haben fünf Charakteristika, die eine Lösung mit traditionellen Ansätzen des strategischen Managements erschweren:4

  1. Das wahrgenommene Problem ist ungewöhnlich und ohne vergleichbare Lösungen
  2. es gibt mehrere betroffene Stakeholder mit Werten und Prioritäten, die zueinander in Konflikt stehen
  3. es gibt viele Problemursachen und diese sind untrennbar miteinander verbunden
  4. es ist unmöglich, sicher zu sein, wann man eine korrekte oder beste Lösung hat und
  5. das Verständnis, was das Problem ist, verändert sich im Kontext vorgeschlagener Lösungen.

Für die Bewältigung der Komplexität dieser Probleme gibt es bislang keine befriedigenden Konzepte.

 

Lernprozess Innovationsstrategie

 

Interessanterweise haben Praktiker, Berater und Wissenschaftler in den ersten vier Entwicklungsstufen des strategischen Managements die Schwierigkeiten dieser      „bösartigen“ Probleme unterschätzt. Eine psychologische Erklärung hierfür mag darin liegen, dass alle diese Akteure dazu neigen, ihre Ohnmacht gegenüber der Komplexität der Herausforderungen zu verdrängen und gerne auf die Machbarkeitsillusion vertrauen, die das traditionelle strategische Management-Paradigma vermittelt.

In dieser Situation kommt ein alternativer Ansatz ins Spiel: Die von Ralph Stacey (1948-2021), der Professor an der Universität von Hertfordshire nördlich von London war, geprägte Theorie komplexer responsiver Beziehungsprozesse.5

Staceys wissenschaftliche Leistung besteht darin, die überwiegend naturwissenschaftlich geprägte Theorie komplexer adaptiver Systeme angepasst und auf das Management übertragen zu haben. Im Mittelpunkt der Arbeit des von ihm gegründeten Complexity and Management Centres (CMC) stehen lokale, nichtlineare Interaktionen zwischen Menschen. Aus dem ungewissen Ausgang der Gesamtheit dieser Interaktionen können sich unterschiedliche Muster ergeben, die nicht prognostizierbar sind. Daher ist es schwer, mit Hilfe von Methoden allgemeine Handlungsempfehlungen zu geben. Wichtig ist hingegen, aus einem tiefen Verständnis der lokalen Interaktionen die Emergenz möglicher Muster abzuleiten.

Stacey ist skeptisch bezüglich des Einsatzes von Methoden bei der Gestaltung von Systemen. Er empfiehlt, Einfluss auf die Rahmenbedingungen oder den Kontext zu nehmen, wobei die Vorstellung von einem System immer eine Abstraktion sei. Welche Aktivitäten erfolgreich sind, hängt entscheidend von dem sich verändernden Kontext ab. Damit liefert die Theorie komplexer responsiver Prozesse eine wichtige Grundlage für das Thema kontextuelle und beziehungsorientierte Intelligenz.

Eine Weiterentwicklung von Staceys Ansatz führt uns zu den Charakteristika einer Strategie 5.0. Diese sind:

  • die Koevolution der früher entstandenen Entwicklungsstufen
  • die Gestaltung von disruptiven Stakeholder- und Innovationsökosystemen6
  • eine Corporate Governance für den strategischen Wandel7
  • eine strategische Führung mit kontextueller und beziehungsorientierter Intelligenz
  • verbindende Fähigkeiten und
  • ein authentisches Führungsverhalten bei der Social-Media-Kommunikation

Das Thema kontextuelle Intelligenz knüpft an eine berühmte Studie der Harvard Business School an.

 

Zeitgeist Leadership Reloaded

Unter dem Titel „Zeitgeist Leadership“ haben im Jahr 2005 die Harvard-Professoren Mayo und Nohria die Ergebnisse einer Studie zusammengefasst, in der 1000 außergewöhnliche US-Wirtschaftsführer analysiert wurden.8 Diese Führungskräfte zeichnet die Fähigkeit aus, Chancen zu erkennen und zu nutzen, die sich aus dem Zeitgeist einer bestimmten Epoche ergeben. Erfolgreiche strategische Führung hängt demnach zu einem Großteil vom Umfeld oder Kontext ab. Dieser Kontext wird durch sechs Einflussfaktoren bestimmt. Personen, die Veränderungen bei diesen Faktoren rechtzeitig wahrnehmen, verfügen über kontextuelle Intelligenz. Die Einflussfaktoren sind:

  1. Globale Ereignisse
  2. staatliche Eingriffe
  3. die Arbeitsverhältnisse
  4. die Demografie
  5. gesellschaftliche Normen und
  6. technologische Entwicklungen.

Diese spezifische Form der Intelligenz ist heute wichtiger denn je, Nitin Nohria hat vor kurzem eine aktualisierte Analyse vorgelegt und einige Entwicklungen beschrieben9 – eine Art Zeitgeist Leadership Reloaded. Wir haben die Faktoren am Beispiel der Energie- und Mobilitätswende in Deutschland betrachtet. In der Abbildung sind diese Aspekte beschrieben.

 

Lernprozess Innovationsstrategie

 

Kennzeichnend für die Krisenjahre 2022 und 2023 ist das Wort „Zeitenwende“, das Bundeskanzler Olaf Scholz kurz nach Anbruch des Kriegs in der Ukraine in einer Sondersitzung des Bundestags am 27. Februar 2022 geprägt hat. Auch hier kommt es wieder darauf an, wie schnell es gelingt, die Zeitenwende zu meistern, damit sie nicht zu einer Wende in Zeitlupe wird.

Angesichts dieser Situation stellt sich die Frage, ob und wie man die kontextuelle Intelligenz von vorhandenen und angehenden Führungskräften entwickeln kann. Dabei ist das Lernziel, das Zusammenwirken relevanter Einflussfaktoren besser zu verstehen.

 

Multiple Intelligenzen als Ausgangspunkt

Den Ausgangspunkt für eine kontextuelle und eine beziehungsorientierte Intelligenz bildet die 1983 publizierte Theorie der multiplen Intelligenzen des Entwicklungspsychologen und Harvard-Professors Howard Gardner.10

Gardner unterscheidet zwischen acht Formen der Intelligenz und erweitert damit die traditionelle Vorstellung von einer sprachlich-linguistischen und logisch-mathematischen Intelligenz.

 

Lernprozess Innovationsstrategie

 

Die beiden traditionellen Vorstellungen von Intelligenz bilden eine wichtige Grundlage für die strategische Analyse und Intuition. Im strategischen Management dominierte lange Zeit die relativ einseitige Sichtweise, dass die Fähigkeit zur strategischen Analyse der primäre Erfolgsfaktor für erfolgreiche Strategiearbeit sei. Die Bedeutung der strategischen Intuition wurde dabei unterschätzt.11 Neuere Forschungsergebnisse zeigen jedoch, dass es auf eine Kombination von strategischer Analyse und strategischer Intuition ankommt.12 Diese Kombination spielt eine entscheidende Rolle bei der strategischen Vorausschau (Foresight), die gegenwärtig angesichts der zahlreichen Krisen eine Neuinterpretation in Richtung Resilienz erlebt (Strategie 4.0).

In den 1990er Jahren entstand aus der Verknüpfung von interpersonaler und intrapersonaler Intelligenz die Theorie einer emotionalen Intelligenz, die durch den Psychologen und Wissenschaftsjournalisten Daniel Goleman bekannt geworden ist.13 Seit dieser Zeit hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass erfolgreiche Führungskräfte auch über emotionale Intelligenz verfügen sollten.14

Wenn man heute von einer unternehmerischen Intelligenz spricht, so verstehen wir darunter das Zusammenwirken von

  • resilienzorientierter strategischer Vorrauschau und
  • emotionaler Intelligenz.

Leider kommt die bewusste Förderung dieses Zusammenwirkens in vielen Programmen zur Führungskräfteentwicklung zu kurz.

Die Abbildung verdeutlicht, dass wir das Konzept der kontextuellen Intelligenz von Führungskräften als Weiterentwicklung ihrer Fähigkeit zu Strategic Foresight betrachten. Das Konzept einer beziehungsorientierten Intelligenz basiert auf der Theorie der emotionalen Intelligenz. Noch wenig erforscht sind die konnektiven Fähigkeiten zur Verbindung von kontextueller und beziehungsorientierter Intelligenz.15

 

Kontextuelle Intelligenz entwickeln

Ein Beispiel für die Bedeutung von kontextueller Intelligenz liefert der Versuch der Europäischen Union (EU), eine Antwort auf den US-amerikanischen Inflation Reduction Act (IRA) der Biden-Regierung zu finden. Während man in den USA auf einen pragmatischen Ansatz zur Förderung von Umwelttechnologien setzt, halten die Beamten in Brüssel am Bürokratie-Monster ihrer Nachhaltigkeitstaxonomie fest. Leidtragende sind vor allem mittelständische Unternehmen, die nicht die finanzielle Kraft haben, in den USA zu produzieren und sich mit der Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRB) auseinandersetzen müssen, anstatt GreenTech-Innovationen voranzutreiben.16

Diese Unterscheide in Wirtschaftsräumen verdeutlichen, dass es bei der Entwicklung von kontextueller Intelligenz darauf ankommt, nicht nur den Heimatmarkt zu verstehen, sondern auch andere Ausprägungen von Kontextfaktoren und lokalen Interaktionen in relevanten Teilen der Welt mit Rahmenbedingungen und einer Kultur, die sich vom Heimatmarkt unterscheiden. Das strategische Management hat den Einfluss dieser Unterschiede lange Zeit unterschätzt.17

 

Lernprozess Innovationsstrategie

 

Ein aktuelles Beispiel liefert das neue Geschäftsmodell der Elektromobilität mit seiner unterschiedlichen Gestalt in Europa und in China. Für deutsche Hersteller von Fahrzeugen mit Verbrennungsmotor ist der wichtige chinesische Markt lange Zeit eine Erfolgsgeschichte gewesen. Bei der Elektromobilität droht sich das Blatt zu wenden. Chinesische Anbieter dominieren nicht nur ihren Heimatmarkt, sondern könnten mit ihrer hohen vertikalen Integration z.B. bei kleineren Fahrzeugklassen auch zu gefährlichen disruptiven Wettbewerbern in Europa werden.18 Die Herausforderung für deutsche Unternehmen liegt nun darin, ihr Geschäftsmodell an den chinesischen Markt anzupassen und den Heimatmarkt gegen Angreifer zu verteidigen.

Eine wichtige Empfehlung für europäische Unternehmen ist daher, dass diese sich im Rahmen der fünften Entwicklungsstufe des strategischen Managements intensiver mit dem tief in den Kulturen asiatischer Länder verankerten pragmatischen Strategieverständnis beschäftigen sollten. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, was zu tun ist und wie etwas zu tun ist. Die Antwort auf diese Frage liegt in der Orchestrierung von Vermögenswerten (Wuli), Fähigkeiten (Shili) und Beziehungen (Renli).19

 

Beziehungsorientierte Intelligenz verbessern

In der Ausbildung von Naturwissenschaftlern und Ingenieuren kommt auch heute das Thema beziehungsorientierte Intelligenz bestenfalls am Rande vor.

Auf dem Weg zu erfolgreichen Unternehmensgründern oder Führungskräften in großen Organisationen haben diese Berufsgruppen die folgenden Optionen:

  • Sie können versuchen, sich die relevanten Fähigkeiten selbst beizubringen
  • sie erwerben eine Zusatzqualifikation, z.B. in Organisationspsychologie und/oder
  • sie vertrauen auf ein Learning by Doing in der Praxis.

Es wäre gut, wenn unsere Bildungs- und Weiterbildungsinstitutionen hierfür entsprechende Angebote entwickeln würden.

Absehbar ist, dass die Bedeutung der beziehungsorientierten Intelligenz weiter zunehmen wird. Die Entwicklung des Sprachmodells ChatGPT durch das Start-up-Unternehmen OpenAI und die Beteiligung von Microsoft haben einen Hype um das Thema generative Künstliche Intelligenz (KI) ausgelöst. Microsoft und Google kündigen an, ihre Suchmaschinen mit Hilfe von KI in Antwortmaschinen zu verwandeln. Die Fähigkeit von KI-Systemen, Gespräche zu führen und Texte zu schreiben, wird die Arbeitswelt verändern. Algorithmen übernehmen weitere Bereiche der traditionellen Wissensarbeit. Aber neben der Fähigkeit von Menschen zur Kooperation mit generativer KI sollten gerade Führungskräfte ihre Kompetenz in beziehungsorientierter Intelligenz verbessern. Denn hier hat KI noch immer große Defizite.

Dabei basiert die beziehungsorientierte Intelligenz auf den Fähigkeiten,20

  • ein harmonisches Verhältnis herzustellen
  • andere zu verstehen
  • individuelle Unterschiede wertzuschätzen
  • Vertrauen zu entwickeln und
  • den eigenen Einfluss zu kultivieren.

In der Abbildung sind die Fähigkeiten näher erläutert. Ein wirkungsvoller Ansatz, um bei diesen Fähigkeiten besser zu werden, ist die Zusammenarbeit mit erfahrenen Mentoren.

 

Lernprozess Innovationsstrategie

 

Ein wichtiges Anwendungsfeld für beziehungsorientierte Intelligenz im Rahmen einer Strategie 5.0 ist die Gestaltung von Stakeholder- und Innovationsökosystemen. Dabei verstehen wir unter dem Begriff Innovationsökosystem die Entstehungsphase eines Stakeholder-Ökosystems ausgehend von einem mehr oder weniger klar definierten Innovationsfeld. Die Zusammenarbeit zwischen einem etablierten Unternehmen, Wissenschaftlern an Hochschulen, Start-ups, neuen Lieferanten und Kunden sowie „schwierigen“ Akteuren in Politik, Verwaltung und Gesellschaft scheitert häufig an Defiziten bei der beziehungsorientierten Intelligenz der Interaktionspartner.

 

Verbindende Fähigkeiten

Die verschiedenen Entwicklungsstufen des strategischen Managements sind durch spezifische Mängel an verbindenden Fähigkeiten gekennzeichnet. In der gegenwärtigen fünften Stufe kommt es vor allem auf die Konnektivität von Stakeholder- und Innovationsökosystemen an.21 In der Abbildung sind diese Mängel zusammengefasst.

 

Lernprozess Innovationsstrategie

 

In Innovationsökosystemen spielen konnektive Fähigkeiten, die kontextuelle Intelligenz und beziehungsorientierte Intelligenz verbinden, eine wichtige Rolle. Wir wollen das am Beispiel von Start-up-Ökosystemen verdeutlichen. Dabei hat der Begriff Start-up-Ökosystem oder Entrepreneurial Ecosystem22 eine Doppelbedeutung. Er beschreibt

  1. das Innovationsökosystem aus der Sicht eines einzelnen Start-ups bzw. dessen unternehmerischer Führung sowie
  2. das auf Start-ups bezogene Innovationssystem eines Landes oder einer Region.

Einige der verbindenden Fähigkeiten in Start-up-Ökosystemen wollen wir kurz erläutern.

 

Lernprozess Innovationsstrategie

 

Eine wichtige Rolle spielt die Verbesserung der politischen und kulturellen Rahmenbedingungen für erfolgreiche Start-ups, die in Deutschland seit Jahrzehnten gefordert wird. Leider hat es den Verantwortlichen wohl vor allem an kontextueller Intelligenz gefehlt, um die erforderliche Programme umzusetzen.

Ein weiterer Punkt ist die Orchestrierung von Forschungseinrichtungen, Start-ups, Wagniskapitalgebern und etablierten Unternehmen beim Technologietransfer. Das Bundesforschungsministerium arbeitet am Aufbau einer Deutschen Agentur für Transfer und Innovation (DATI), die helfen soll, die relevanten Akteure zu vernetzen. Es ist zu hoffen, dass dabei die Verbesserung der verbindenden Fähigkeiten nicht zu kurz kommt.

Ein dritter Aspekt ist die Zusammenarbeit von Führungskräften und Personalmanagern mit der heterogenen Generation Z und ihren spezifischen Bedürfnissen. Im gegenwärtigen War for Talents rät die 22-jährige Gen Z-Beraterin Yael Meier Unternehmen, die die Angeworbenen dauerhaft binden wollen, neben finanziellen Anreizen auf zwei Instrumente zu setzen: Interne Wertschätzung und externe Wertschätzung aufgrund einer positiven Außenwirkung der Organisation.23

Außerdem ist eine wichtige Frage, wie gut die weltweite Skalierung von Start-ups in unterschiedlichen Wirtschaftsräumen gelingt. Auch hierbei ist neben Kapitalkraft die Verbindung von kontextueller und beziehungsorientierter Intelligenz ein entscheidender Erfolgsfaktor.

 

Authentisches Führungsverhalten bei der Social-Media-Kommunikation

Ein neueres Einsatzgebiet für verbindende Fähigkeiten ist die Social-Media-Kommunikation von Führungskräften. Dabei hat die Bedeutung von Plattformen wie LinkedIn stark zugenommen. Neben der ursprünglichen Vernetzungsfunktion und der Rolle als Werkzeug bei der Rekrutierung und im Vertrieb24 nutzen immer mehr Führungskräfte LinkedIn als personalisiertes Instrument der Unternehmenskommunikation. Das Führungsverhalten in der sozial verbundenen Welt ist jedoch sehr unterschiedlich.25

Die Kölner Agentur Palmer Hargreaves hat die Social-Media-Kommunikation der CEOs deutscher börsennotierter Unternehmen analysiert und anhand mehrerer Kriterien bewertet.26 Spitzenreiter ist Markus Krebber von RWE, der gemeinsam mit seinem Team das Unternehmen in der Energiekrise politisch positioniert hat. Der drittplatzierte Timotheus Höttges von der Deutschen Telekom punktete mit der Breite der Stakeholder, die er erreicht. Eine Herausforderung für die „LinkedIn-Könige“ ist, sowohl die Professionalität einer Kommunikationsabteilung zu nutzen als auch persönlich authentisch zu wirken. Dies gelingt einer Reihe von Connected Leaders immer besser.

 

Fazit

  • Wichtige Grundlagen für die fünfte Entwicklungsstufe eines verbindenden strategischen Managements (Strategie 5.0) sind die Behandlung von Barrieren zwischen Stakeholdern als Wicked Problem, der Megatrend Konnektivität und die Theorie komplexer responsiver Beziehungsprozesse
  • Die Bewältigung von „bösartigen“ Problemen und komplexe responsive Beziehungsprozesse erfordern eine Verbindung von kontextueller und beziehungsorientierter Intelligenz, deren Förderung in der Führungskräfteentwicklung einen höheren Stellenwert bekommen sollte
  • Der Begriff kontextuelle Intelligenz beschreibt die Fähigkeit, das Zusammenwirken relevanter Einflussfaktoren im Umfeld zu verstehen und daraus Schlussfolgerungen abzuleiten. Führungskräfte sollten sich neben dem Heimatmarkt auch intensiver mit dem Kontext und lokalen Interaktionen in anderen Wirtschaftsräumen beschäftigen
  • Beziehungsorientierte Intelligenz basiert auf spezifischen, erlernbaren Fähigkeiten, die in der Führungskräfteentwicklung eine eher untergeordnete Rolle spielen, für den Erfolg von Stakeholder- und Innovationsökosystemen aber von großer Bedeutung sind
  • Eine strategische Führung, die kontextuelle und beziehungsorientierte Intelligenz verbindet, kann einen Beitrag zur Lösung „bösartiger“ Probleme leisten
  • Kontextuelle und beziehungsorientierte Intelligenz sowie deren Verbindung sind wichtige Bausteine einer Strategie 5.0. Die Defizite z.B. im deutschen Start-up-Ökosystem resultieren unter anderem aus einem Mangel an den erforderlichen konnektiven Fähigkeiten
  • Zukunftsorientierte Connected Leaders erkennt man an ihrer hohen Kompetenz bei einer authentischen Social-Media-Kommunikation in einer verbundenen Welt

 

Literatur

[1] Servatius, H.G.: Strategie 5.0 zur Bewältigung der neuen Herausforderungen. In: Competivation Blog, 28.06.2022

[2] Servatius, H.G.: Der Megatrend Konnektivität und seine Treiber. In: Competivation Blog, 26.10.2021

[3] Servatius, H.G.: Personalführung im Zeitalter eines Connective Managements. In: Competivation Blog, 19.01.2021

[4] Camillus, J.L.: Wicked Strategies – How Companies Conquer Complexity and Confound Competitors, Toronto 2016

[5] Stacey, R.: Tools and Techniques of Leadership and Management – Meeting the Challenge of Complexity, London 2012

[6] Servatius, H.G.: Gestaltung von innovativen Stakeholder-Ökosystemen. In: Competivation Blog, 10.01.2023

[7] Servatius, H.G.: Corporate Governance für den strategischen Wandel. In: Competivation Blog, 16.11.2022

[8] Mayo, A., Nohria, N.: Zeitgeist Leadership. In: Harvard Business Review, October 2005

[9] Nohria, N.: Andere Zeiten, andere Führung. In: Manager Magazin, Februar 2023, S. 78-82

[10] Gardner, H.: Frames of Mind – The Theory of Multiple Intelligences, New York, 1983

[11] Duggan, W.: Strategic Intuition – The Creative Spark in Human Achievement, New York 2007

[12] Servatius, H.G.: Wie Manager das Innovationssystem verhaltensökonomisch gestalten – Ein potenzialorientierter Ansatz. In: IM+io – Fachzeitschrift für Innovation, Organisation und Management, Heft 3, September 2015, S. 20-27

[13] Goleman, D.: Emotional Intelligence – Why it Can Matter More Than IQ, New York 1995

[14] Goleman, D., Boyatzis, R., McKee, A.: Emotionale Führung, München 2002

[15] Servatius, H.G.: Mentoring-Programme für die Entwicklung konnektiver Fähigkeiten. In: Competivation Blog, 10.05.2021

[16] Servatius, H.G.: Nachhaltige Entwicklung von Unternehmen mit einer Sustainability Map. In: Competivation Blog, 30.11.2021

[17] Khanna, T.: Contextual Intelligence. In: Harvard Business Review, September 2014

[18] Hubik, F., Tyborski, R.: Scheitern in China. In: Handelsblatt, 22. Februar 2023, S. 1, 4-5

[19] Nonaka, I., Zhu, Z.: Pragmatic Strategy – Eastern Wisdom, Global Success, Cambridge 2012, S. 276 ff., S. 298 ff.

[20] Bandelli, A.C.: Relational Intelligence – The Five Essential Skills You Need to Build Life-Changing Relationships, Murrels Inlet 2022

[21] Servatius, H.G.: Let’s Connect! Personalentwicklung für Stakeholder-Ökosysteme. In: IM+io – Best & Next Practices aus Digitalisierung, Management und Wirtschaft, Heft 1, März 2023, S. 40-43

[22] Spigel, B.: Get Social – Social Media Strategy and Tactics for Leaders, London 2018

[23] Banze, S., Steinharter, H.: Sturm und Drängeln. In: Manager Magazin, März 2023, S. 114-119

[24] Disney, D.: The Ultimate LinkedIn Sales Guide, Chichester 2021

[25] Corrille, M.: Get Social – Social Media Strategy and Tactics for Leaders, London 2018

[26] Beil, J., Müllender, A.: Die LinkedIn-Könige. In: Handelsblatt, 3./4./5. März, S. 52-53

Corporate Governance für den strategischen Wandel

Corporate Governance für den strategischen Wandel

Angesichts neuer strategischer Herausforderungen stellt sich die Frage nach einer weiterentwickelten Corporate Governance. Ausgehend von den gesetzlichen Rahmenbedingungen erfordert die Beantwortung dieser Frage eine enge Zusammenarbeit von Führung und Aufsichtsrat.

 

In diesem Blogpost beschäftigen wir uns mit den Implikationen für die Governance von Unternehmen, die sich aus einer zunehmenden Dynamik des strategischen Wandels und der wachsenden Bedeutung von Stakeholdern ergeben.

 

Kompetenzen von Business Transformation Managern

Seit einigen Jahren bietet die RWTH Aachen einen Zertifikatskurs für Business Transformation Manager an, den das FIR organsiert.1 In diesem Kurs behandele ich seit seinem Beginn das Thema Transformation Governance. Aufgrund der gravierenden Veränderungen im Umfeld von Unternehmen habe ich in diesem Jahr meinen Kursbeitrag neugestaltet. Im Mittelpunkt steht eine dynamische Corporate Governance, die sich an den Entwicklungsstufen des strategischen Managements orientiert. Wir unterscheiden zwischen:2

  • Einer markt- und entwicklungsorientierten Stufe (Strategie 1.0)
  • einer technologie- und innovationsorientierten Stufe (Strategie 2.0)
  • einer nachhaltigkeitsorientierten Stufe (Strategie 3.0)
  • einer resilienzorientierten Stufe (Strategie 4.0) und
  • der Notwendigkeit einer stärker verbindenden Stufe (Strategie 5.0)

In der nachhaltigkeitsorientierten Stufe drei erscheint beim Thema ESG-Bewertung neben den Kriterien Environment and Social explizit der Begriff Governance. Was genau unter einer verantwortungsvollen Unternehmerführung und -kontrolle zu verstehen ist, wird von den Rating-Agenturen allerdings unterschiedlich interpretiert. Dies hat im Finanzsektor zu einem verstärkten Greenwashing beigetragen.

Die Führung und der Aufsichtsrat eines Unternehmens haben die Aufgabe, dessen Situation richtig einzuschätzen, einen Ordnungsrahmen für den strategischen Wandel zu gestalten und daraus Anforderungen an das Management und die Personalentwicklung abzuleiten. Mit dieser Herausforderung beschäftigt sich mein Kursbeitrag. Aus den Fragen der Teilnehmer hat sich eine spannende Diskussion zu den spezifischen Themen ergeben, die ihre Unternehmen beschäftigen.

 

Transparenz durch ein Strategie-Audit

Nach meiner Erläuterung der Wurzeln und Charakteristika der fünf Entwicklungsstufen des strategischen Managements von den 1970er Jahren bis heute interessierten sich die Teilnehmer für einen konzeptionellen Rahmen zur Analyse der Situation ihres Unternehmens.

In unserer praktischen Projektarbeit machen wir die strategischen Herausforderungen eines Unternehmens mit Hilfe eines Strategie-Audits transparent. Darin betrachten wir die fünf Entwicklungsstufen mit einer SWOT-Analyse. Das Ergebnis stellen wir in einer Matrix der Entwicklungsstufen von Strategie 1.0 bis Strategie 5.0 dar. Die Positionen ergeben sich aus einer Analyse der x- und der y-Achse. Aus der Analyse der Stärken und Schwächen bei den fünf Entwicklungsstufen des strategischen Managements resultiert die Position auf der x-Achse. Die Position auf der y-Achse ergibt sich aus einer Analyse der Möglichkeiten und Bedrohungen im Umfeld des Unternehmens. In der Abbildung ist das Ergebnis für einen traditionellen mittelständischen Automobilzulieferer dargestellt.

 

Lernprozess Innovationsstrategie
 

Dieses Audit-Ergebnis zeigt ein klar erkennbares Muster. Im Verlauf der fünf Entwicklungsstufen haben sich die Bedrohungen gehäuft. Gleichzeitig hat sich die eigene Position verschlechtert. Wir wollen kurz erläutern, wie es zu dieser Entwicklung gekommen ist.

 

Sich häufende Bedrohungen und eigene Schwächen

Das Unternehmen verfügt bei der ersten Entwicklungsstufe (Strategie 1.0) über viel Branchen-Erfahrung sowie methodisches Knowhow mit traditionellen Ansätzen wie der Portfolio-Analyse und dem Balanced Scorecard-Konzept. Man tut sich jedoch bei der Bewältigung des strategischen Wandels schwer. Als Herausforderung empfinden die Führungskräfte neue Wettbewerber mit disruptiven Geschäftsmodellen.

Eine wichtige Bedrohung im Rahmen einer Strategie 2.0 sind digitale Technologien. Der Versuch, diese Technologien mit der Bildung einer Digitaleinheit zu meistern war bislang nur mäßig erfolgreich. Es ist nicht gelungen, die Möglichkeiten agiler Methoden mit dem traditionellen Geschäftsmodell zu verknüpfen. Das Problem ist zwar erkannt, die kulturellen Barrieren erweisen sich jedoch als schwer überwindbar.

Etwas anders gelagert sind die Herausforderungen beim Thema Nachhaltigkeit, also der dritten Entwicklungsstufe des strategischen Managements. Man gehört hier nicht zu den Vorreitern und empfindet die bürokratischen Anforderungen der neuen EU-Taxonomie als starke Belastung.

Überlagert wird dies alles durch die gegenwärtige Energiekrise. Das Unternehmen musste zwar auch in der Vergangenheit schon einige Krisen meistern. Die gegenwärtige Explosion der Strom- und Gaspreise ist jedoch existenzbedrohend.3 Ein resilienzorientiertes strategisches Management der Stufe vier betrachten die Führungskräfte auch nach der Corona-Pandemie noch weitgehend als Neuland.

Das Zusammenwirken all dieser Bedrohungen löst bei dem Unternehmen ein gewisses Gefühl der Ohnmacht aus. Im Hinblick auf eine verbindende Stufe fünf fällt es den Verantwortlichen schwer, die richtige Balance aus Krisenbewältigung und Chancennutzung zu finden. In dieser Situation suchen Führung und Aufsichtsrat gemeinsam nach neuen Formen der Governance zur Bewältigung des strategischen Wandels. Eine wichtige Rolle spielt dabei eine angemessene Reaktion auf disruptive Stakeholder-Ökosysteme ausländischer Wettbewerber, die von ihrer hohen IT-Kompetenz und von niedrigen Energiekosten profitieren.4

Die Führung und der Aufsichtsrat müssen sich angesichts dieser Ergebnisse fragen, welche Versäumnisse bei der Antizipation des strategischen Wandels vorliegen. Wie viele traditionelle Unternehmen hat der Automobilzulieferer den sich seit den 1990er Jahren abzeichnende Paradigmenwechsel im strategischen Management von mechanistisch zu komplexitätsbewusst zu spät erkannt.5 Symptome sind der zögerliche Übergang zur Elektromobilität und der erst relativ spät erfolgte Einsatz agiler Methoden bei der Produktentwicklung. Zu diesen Bedrohungen und sich abzeichnenden Schwächen ist dann die gegenwärtige Multikrise hinzugekommen.

 

Zusammenhang zwischen Strategie, Governance, Führung und Personalentwicklung

Eine wichtige Erkenntnis des von dem Unternehmen hierzu gestarteten Projekts ist, dass Strategie, Governance, Führung und Personalentwicklung zusammenwirken und sich wechselseitig verstärken sollten. Die gegenwärtigen Krisen lassen Versäumnisse der Vergangenheit deutlicher zutage treten. Das Strategie-Audit hat die Transparenz bezüglich der Entwicklungsstufen des strategischen Managements verbessert. Der Führung und dem Aufsichtsrat ist klarer geworden, dass Corporate Governance – also die Gestaltung eines Ordnungsrahmen und die Definition der Rollen der Akteure – ein dynamischer Prozess ist, der einer regelmäßigen Anpassung bedarf. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die veränderten Anforderungen an Führungskräfte. Für den hart umkämpften Management-Nachwuchs gilt es, neue Wege in der Personalentwicklung zu beschreiten und die erforderlichen konnektiven Fähigkeiten (π-shaped Skills) stärker zu fördern.6

 

Lernprozess Innovationsstrategie
 

Eine Frage von zentraler Bedeutung ist, welche strategischen Optionen in dieser Situation Erfolg versprechend sind, um die gegenwärtigen Risiken zu bewältigen, gleichzeitig aber auch die sich bietenden Chancen zu nutzen.

Der neue Weltchef der Personalberatung Egon Zehnder vertritt hierzu die Ansicht, dass wir gerade einen perfekten Stresstest für Führungskräfte erleben. Neben Industrieexpertise brauche man Verantwortliche mit Erfahrung in anderen gesellschaftlichen Bereichen. Für Unternehmen werde es außerdem immer wichtiger, zukünftige Führungskräfte selbst zu entwickeln.7

 

Bewältigung von Risiken und Nutzung von Chancen

Ein von uns zur Bewältigung dieser Herausforderungen veranstalteter Workshop kommt zu dem Ergebnis, dass sich vier relevante strategische Optionen aus dem Erfolg bzw. Misserfolg von zwei Dimensionen ergeben:

  1. Der Bewältigung der gegenwärtigen Multikrise mit Hilfe einer resilienzorientierten Strategie 4.0 und
  2. einer längerfristig orientierten Nutzung von Chancen bei den Themen Digitalisierung und Nachhaltigkeit (Strategie 2.0 und 3.0)

Führung und Aufsichtsrat entscheiden, dass man gemeinsam die vierte Option verfolgen möchte, bei der das Unternehmen anstrebt, die Krisenbewältigung und Chancennutzung mit einer Strategie 5.0 zu verbinden. Angesichts der Unterschiedlichkeit dieser Aufgabe beschließt man, hierzu zwei agile Programme aufzusetzen. Die Umsetzung erfolgt mit Hilfe der Objectives and Key Results (OKR-) Methode, mit der die Digitaleinheit bereits Erfahrung gesammelt hat.

 

Lernprozess Innovationsstrategie
 

Aus dem Strategie-Audit ergeben sich wichtige Impulse, welche Ziele und Schlüsselergebnisse der Automobilzulieferer mit Hilfe eines solchen agilen Performance Management-Konzepts erreichen möchte. Aufgabe der Führung und des Aufsichtsrates ist es, sich mit der notwendigen Weiterentwicklung der Corporate Governance zu beschäftigen.

 

Implikationen für eine dynamische Corporate Governance

Die erste wichtige Implikation ist also, Corporate Governance stärker als dynamische Aufgabe zu interpretieren. Eine gute Orientierungshilfe liefert dabei die Gliederung des strategischen Managements in fünf Entwicklungsstufen, die jeweils mit spezifischen Herausforderungen verbunden sind.

Eine zweite Implikation ergibt sich aus der Erkenntnis, dass ein wichtiger Erfolgsfaktor in diesen Entwicklungsstufen die stärkere Berücksichtigung von Stakeholdern ist, Corporate Governance entwickelt sich also in Richtung auf deine Stakeholder- oder Ecosystem Governance.8 Wir wollen dies am Beispiel des betrachteten Unternehmens verdeutlichen.

 

Lernprozess Innovationsstrategie
 

Kennzeichnend für die erste Entwicklungsstufe des strategischen Managements sind veränderte Kundenerwartungen z.B. bezüglich der IT-Kompetenz des Automobilzulieferers und neue Risiken auf den Beschaffungsmärkten. Diese Risiken betreffen neben den Lieferketten vor allem die Energieversorgung. Neben dieser Marktorientierung ist die zweite Komponente einer Strategie 1.0 die Veränderungsorientierung. Hier befinden sich die Führungskräfte in einem zunehmenden Spannungsverhältnis zwischen den Möglichkeiten der Arbeitsgestaltung im Rahmen des Themas New Work und der aktuellen Krisenbewältigung. Mit dieser Herausforderung sehen sich viele Unternehmen konfrontiert. So kommt eine aktuelle Studie des Personalberater Odgers Berndtson zu dem Ergebnis, dass ein Viertel aller Bereichs- und Abteilungsleiter gegenwärtig bereit wäre, das Unternehmen zu wechseln. Als Begründung nennen sie den zunehmenden Druck, den ihre Sandwich-Position im Mittelmanagement mit sich bringt.9

Die Herausforderung in der technologie- und innovationsorientierten zweiten Entwicklungsstufe ist die Zusammenarbeit mit verschiedenen Partnern bei der Digitalisierung des Geschäftsmodells. Neue Impulse kommen dabei von Hochschulen aus der Region und den aus diesen Hochschulen hervorgegangenen Start-ups. Eine wichtige Frage ist, wie das Unternehmen eine zunehmende Abhängigkeit von Cloud-Anbietern und Artificial Intelligence of Things (AIoT-) Plattformen vermeiden kann. Dies gelingt mit dem systematischen Aufbau von eigener Kompetenz. Auf diese Weise steigert der Automobilzulieferer seine Attraktivität als Arbeitgeber für junge Mitarbeiter. In den letzten Jahren wurde hierzu ein Partnernetzwerk mit anderen Unternehmen aus der Region und den Verantwortlichen für das Regionalmarketing aufgebaut.

Ein weiteres Feld für die Zusammenarbeit mit Partnern ist die Entwicklung eines nachhaltigen Geschäftsmodells im Rahmen der dritten Entwicklungsstufe des strategischen Managements. Das Unternehmen sieht Differenzierungsmöglichkeiten beim Thema Digital GreenTech, also der Verbindung von Umwelttechnik und digitalen Technologien. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Mitgliedschaft in Verbänden, die die Zusammenarbeit mit der Politik orchestrieren. Auf diese Weise möchte der Automobilzulieferer neue Arbeitsplätze in der Region schaffen, um den Arbeitsplatzverlust bei Komponenten für traditionelle Antriebe auszugleichen. Von den Führungskräften erfordert dies viel kommunikative Kompetenz, um eine angemessene Balance zwischen Wirtschaftlichkeit, Umweltschutz und sozialen Aspekten zu finden.

Besonders gefordert sind die Führung und der Aufsichtsrat bei der Entwicklung einer stärker resilienzorientierten Strategie 4.0 Dies ist mit einer Neubewertung von geopolitischen Risiken und Chancen verbunden, für die es in der jüngeren Unternehmensgeschichte keine vergleichbaren Vorbilder gibt. Der Automobilzulieferer arbeitet mit externen Experten zusammen, um die eigene Resilienzfähigkeit zu verbessern. Die Experten bringen neue wissenschaftliche Erkenntnisse ein und organisieren einen Erfahrungsaustausch mit anderen Unternehmen und der Politik.

Eine Verbindung und Weiterentwicklung dieser vier Entwicklungsstufen erfolgt im Rahmen der Arbeit an einer Strategie 5.0. Diese liefert die Grundlage für die Gestaltung eines eigenen disruptiven Stakeholder-Ökosystems. Das Unternehmen möchte so Schritt für Schritt seine Rolle als Angreifer zurückgewinnen. Das Mittel zur Erreichung dieses Ziels sind agile intersektorale Programme für die Zusammenarbeit von Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Hierbei bringen die Führung und der Aufsichtsrat ihre gesamte Erfahrung und ihr umfangreiches Netzwerk ein.

 

Fazit

  • Aus den fünf Entwicklungsstufen des strategischen Managements ergibt sich die Notwendigkeit einer dynamischen Corporate Governance
  • Ein bewährtes Konzept zum Verständnis der Ausgangssituation von Unternehmen ist ein Audit in Form einer SWOT-Analyse der Bewältigung des strategischen Wandels
  • Hieran schließt sich ein Projekt zur Verbesserung der Zusammenhänge zwischen Strategie, Governance, Führung und Personalentwicklung an
  • Ein wichtiges Kennzeichen einer dynamischen Corporate Governance ist die stärkere Stakeholder-Orientierung, die auf die spezifische Situation des Unternehmens zugeschnitten sein sollte.

 

Literatur

[1] Wolan, M.: Next Generation Digital Transformation – 50 Prinzipien für erfolgreichen Unternehmenswandel im Zeitalter der Künstlichen Intelligenz, Wiesbaden 2020

[2] Servatius, H.G.: Strategie 5.0 zur Bewältigung der neuen Herausforderungen. In: Competivation Blog, 28.06.2022

[3] Greive, M., Olk, J., Specht, F.: Industrie steckt in der Energiefalle. In: Handelsblatt, 1. November 2022, S. 9

[4] Adner, R.: Winning the Right Game – How to Disrupt, Defend, and Deliver in a Changing World, Cambridge 2021

[5] Servatius, H.G.: Komplexitätsbewältigung als Treiber eines Connective Managements. In: Competivation Blog, 31.03.2021

[6] Servatius, H.G.: Mentoring-Programme zur Entwicklung konnektiver Fähigkeiten. In: Competivation Blog, 10.05.2021

[7] Ensser, M.: „Wir erleben gerade den perfekten Stresstest für Führungskräfte“ (Interview). In: Handelsblatt, 1. November 2022, S. 24-25

[8] Hilb, M. (Hrsg.): Governance of Ecosystems – The Role of Governance in Collaborative Value Creation, Bern 2021

Interessiert?

CONNECTIVE MANAGEMENT

Vereinbaren Sie einen unverbindlichen Gesprächstermin:

 














    +49 (0)211 454 3731