Strategisches Management | Competivation
Evolution des strategischen Managements

Evolution des strategischen Managements

Digital-Unternehmen haben die erste Entwicklungsstufe des markt- und finanzorientierten strategischen Managements mit einer zweiten Stufe verbunden, die durch Technologie und Innovation geprägt ist. Bereits vor der Entstehung des strategischen Managements ist eine solche Konnektivität grundlegender Orientierungen ein Erfolgsfaktor der europäischen Hidden Champions gewesen. In der Fähigkeit zur Verbindung liegt auch gegenwärtig eine Chance für die europäische Industrie, die sich ausgehend von ihren traditionellen Stärken neu in Richtung auf Digitalisierung, Nachhaltigkeit und Resilienz ausrichten muss.

In diesem Blogpost erläutere ich die Grundlagen und Charakteristika der ersten beiden Entwicklungsstufen des strategischen Managements und gehe auf die Rolle der generativen Künstlichen Intelligenz (KI) als Game Changer ein.

 

Verbindung von Strategie 1.0 und 2.0

Fast jedes zweite deutsche Unternehmen befürchtet, dass eine Deindustrialisierung des Standorts Deutschlands kaum noch aufzuhalten ist und dieser weiter an Attraktivität verliert. Das ist das ernüchternde Ergebnis einer Studie des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI). Nach Meinung der Befragten sei die Lage so schlecht wie schon lange nicht mehr.1

Natürlich ist dies vor allem ein Weckruf an die Politik. Daneben stellt sich aber die Frage, wie Unternehmen ihr strategische Managements an ein verändertes Umfeld anpassen können.

Aufgabe des strategischen Managements als interdisziplinäres Fachgebiet ist es, die Unternehmensentwicklung zu gestalten und neue Herausforderungen zu meistern. In den letzten Jahrzehnten haben sich die Rahmenbedingungen für die Wirtschaft grundlegend verändert. Die sich daraus ergebende Evolution des strategischen Managements gliedern wir in fünf Entwicklungsstufen.2 Zwischen diesen Stufen gibt es vielfältige Wechselwirkungen und Rückkopplungen. Gegenwärtig von besonderer Bedeutung ist die Verbindung zwischen der Strategie 1.0 und der Strategie 2.0. Eine wichtige Rolle spielen dabei Digital-Unternehmen.3

 

Vier grundlegende Orientierungen

Das strategische Management hat sich seit den 1960er Jahren aus der strategischen Planung entwickelt.4 Bereits lange vorher lag eine Stärke der wenig bekannten europäischen Weltmarktführer in ihrer Verbindung der Technologie-, Innovations-, Markt- und Finanzorientierung. Bis heute sind die vier grundlegenden Orientierungen bei diesem Unternehmenstyp auf spezifische, wissensintensive Geschäftsfelder fokussiert.5 Dies hat zum hohen Ansehen des German Engineering in der Welt beigetragen.

Der Siegeszug der ersten Entwicklungsstufe eines markt- und finanzorientierten strategischen Managements begann hingegen in diversifizierten US-amerikanischen Großunternehmen. Ein wichtiger Nutzen für die Verantwortlichen lag in der integrativen Sicht betrieblicher Funktionen und der Unterstützung von Portfolio-Entscheidungen. In den 1970er Jahren erreichte diese neuen Managementlehre deutsche Großunternehmen. Parallel dazu gewannen Funktionalstrategien an Bedeutung. Die Strategieumsetzung scheiterte aber häufig an einer von der Personalführung nicht bewältigten Komplexität.

Technologie- und Innovationsaspekte spielten in dieser ersten Stufe eine untergeordnete Rolle. Daher war die Verbreitung des strategischen Managements bei europäischen Hidden Champions und im Mittelstand eher gering. Dies hat mich Ende der 1970er Jahre bewogen, mit einer Promotion zum strategischen Technologie-Management zu beginnen. Interessanterweise befand sich in dieser Zeit die US-amerikanische Industrie in einer tiefen Krise.6 In meiner Dissertation habe ich eine ressourcenorientierte Methodik für die Entstehung von Technologiestrategien entwickelt und damit einen Beitrag zur zweiten Entwicklungsstufe eines technologie- und innovationsorientierten strategischen Managements geleistet.7 Dabei war eine wichtige Erkenntnis, dass erfolgreiche Innovationssysteme von Unternehmen aus verbundenen Handlungsfeldern bestehen. Bei deren Gestaltung kommt es auf die Fähigkeit an, die Entstehung und Umsetzung von Strategien mit einer unternehmerischen Kultur zu verbinden.8

In Europa weniger erfolgreich verlaufen ist die Erschließung des Potenzials digitaler Querschnittstechnologien. So waren es letztlich US-amerikanische Start-ups, die im Rahmen von verschiedenen Digitalisierungswellen die erste und die zweite Entwicklungsstufe des strategischen Managements zusammengeführt haben. Auf diese Weise sind die heute wertvollsten Unternehmen der Welt entstanden. Die Abbildung veranschaulicht die vier Orientierungen, die die ersten beiden Entwicklungsstufen des strategischen Managements verbinden.

Lernprozess Innovationsstrategie

Im folgenden möchte ich die Grundlagen und Charakteristika dieser beiden Entwicklungsstufen näher erläutern.

 

Markt- und finanzorientiertes strategisches Management

Die Ursprünge des Strategiebegriffs liegen im militärischen Sektor. Eine frühe Übertragung auf die Wirtschaft erfolgte an der Harvard Business School, wo man 1911 einen Kurs zum Thema Business Policy startete, um eine Klammer für die betriebswirtschaftlichen Funktionslehren zu schaffen. Schwerpunkt der Unternehmenspolitik sind die Themen Vision und Mission.9 Eine weitere Grundlage der ersten Stufe ist der Blick in mögliche Zukünfte, was der Begriff Foresight umschreibt.10 In dieser Entstehungsphase hat das strategische Management allmählich die bis dahin verbreitete Langfristplanung verdrängt.  Allerdings ist das strategische Management nie ein homogenes Konzept gewesen. Relativ früh sind verschiedene Schulen entstanden, die die Vielzahl möglicher Strategieprozesse beschreiben. Dabei ist der analytische Prozess nur eine der Varianten.11

Lernprozess Innovationsstrategie

Im Mittelpunkt der ersten Entwicklungsstufe des strategischen Managements (Strategie 1.0) steht der Fokus auf Wettbewerbsvorteile in Absatzmärkten.12 Das übergeordnete Ziel ist eine Steigerung des Unternehmenswertes für die Anteilseigner.13 Gegen diese dominierende Shareholder-Value-Sicht konnte sich die Stakeholder-Theorie zunächst nicht durchsetzen. Einen starken Einfluss auf die praktische Strategiearbeit hatte die durch Wissenschaftler und Managementberatungen geprägte Positionierungsschule, die die Strategieentwicklung als primär analytischen Prozess betrachtet. Eine populäre Methode ist die aus heutiger Sicht relativ mechanistisch erscheinende Portfolio-Analyse strategischer Geschäftselder.14

Der Hauptkritikunkt an der Strategie 1.0 ist, dass es mit dem primär analytischen Vorgehen allein nicht gelingt, Umsetzungsprobleme zu meistern. Zu einem Scheitern der Strategie-Implementierung tragen die Top-down-Vorgehensweise und die schwierige Harmonisierung von Funktionalstrategien bei. Trotz der Kritik ist diese erste Entwicklungsstufe vor allem in etablierten Großunternehmen lange Zeit weit verbreitet gewesen. Sie steht auch immer noch im Mittelpunkt der Lehre vieler Hochschulen, die zwischen den Fächern strategisches Management und Technologie- und Innovationsmanagement unterscheiden.

 

Technologie- und innovationsorientiertes strategisches Management

Die zweite, technologie- und innovationsorientierte Stufe des strategischen Managements basiert stärker auf Unternehmertum. Daher liefert für eine Strategie 2.0 die Entrepreneurship-Forschung eine wichtige Grundlage.15 In den USA haben die Finanzierung von Start-ups durch Venture Capital16 und das Corporate Venture Management viel früher an Bedeutung gewonnen als in Europa.17 Eine weitere wichtige Grundlage ist die ganzheitliche Designtheorie, die der Wirtschaftsnobelpreisträger Herbert Simon geprägt hat.18 Von den betriebswirtschaftlichen Funktionslehren behandeln vor allem das Forschungs- und Entwicklungs-(F&E) Management19 und das Produktionsmanagement20 technologische Themen.

Lernprozess Innovationsstrategie

Seit den 1980er Jahren hat sich die zweite Stufe des strategischen Managements sehr dynamisch in verschiedenen Phasen entwickelt.21 Der Fokus liegt dabei auf Technologien und Innovationsvorteilen. Das Technologie- und Innovationsmanagement integriert klassische Managementaufgaben in einem systemorientierten Ansatz.22 Hervorzuheben ist dabei die Bedeutung der Personalführung, Kultur und Organisation. Die Aufgabe von Innovationsmanagern liegt in der Gestaltung der verbundenen Handlungsfelder des Innovationssystems ihres Untenehmens.23 Diese systemorientierte Betrachtung von Handlungsfeldern bildet für die beteiligten Akteure einen gemeinsamen Rahmen. Die Evolution eines solchen offenen, komplexen Systems ergibt sich aus der Interaktion der Akteure mit ihrem Umfeld. In den letzten Jahrzehnten hat die Bedeutung von neuen Geschäftsmodellen24 und einer innovationsfördernden Kultur25 stark zugenommen. Dabei haben zunächst vor allem Start-ups mit agilen Methoden das Potenzial digitaler Technologien genutzt.26

Aus diesen Start-ups sind die US-amerikanischen Digital-Giganten hervorgegangen, deren Marktmacht teilweise auch kritisch gesehen wird. Für etablierte Unternehmen stellen der digitale Wandel und die damit verbundene Abhängigkeit von IT-Unternehmen eine große Herausforderung dar.27 In der folgenden Abbildung ist die zeitliche Entwicklung des technologie- und innovationsorientierten strategischen Managements zusammengefasst.

Lernprozess Innovationsstrategie

Eine neue Digitalisierungswelle geht von der generativen Künstlichen Intelligenz (KI) mit großen Sprachmodellen aus, die Produktivitätsvorteile und veränderte Formen der Wissensarbeit ermöglicht. Im Juni 2024 ist der KI-Ausrüster Nvidia kurzfristig das wertvollste börsenorientierte Unternehmen der Welt geworden.28 In dieser aktuellen Welle könnten die Karten zwischen Unternehmen und Wirtschaftsblöcken neu gemischt werden. Es stellt sich die Frage, wie Europa die sich hieraus ergebenden Risiken meistern kann.

 

Die generative KI als Game Changer für Europa

Als wir 2020 unser Buch Das Internet der Dinge und Künstliche Intelligenz als Game Changer publiziert haben, war der gegenwärtige Hype um die generative KI noch nicht absehbar. Im letzten Kapitel des Buchs setzen wir uns kritisch mit der europäischen und der deutschen Innovationspolitik auseindander.29 Eine spannende Frage ist, inwieweit die generative KI zu einer erfolgreichen Neuausrichtung der deutschen Wirtschaft beiträgt oder ihren weiteren Niedergang beschleunigt. Beides erscheint möglich. Daher befindet sich unser Land an einem Wendepunkt.

Aus der Erfolgsgeschichte der europäischen Hidden Champions können wir lernen, dass es entscheidend auf eine Verbindung der Sektoren Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft sowie der strategischen Handlungsfelder von Unternehmen ankommt. Unsere Empfehlung ist daher zu versuchen, eine Kultur der Verbundenheit zurückzugewinnen. Wichtig wäre es, dass alle Beteiligten einen entsprechenden Mindset entwickeln. Den sollten die Eliten vorleben und hoffen, dass die Bürgerinnen und Bürger ihrem Beispiel folgen. Die Aus- und Weiterbildung zum Thema Cultural Connectedness kann hierzu einen Beitrag leisten.

 

Fazit

– Der Erfolg von Digital-Unternehmen resultiert aus der Verbindung der ersten und  der zweiten Entwicklungsstufe des strategischen Managements

– Ein Problem der ersten markt- und finanzorientierten Stufe ist die Komplexitätsbewältigung bei der Strategieumsetzung

-Den Digital-Champions gelingt es besser als etablierten Unternehmen, das Potenzial der Informationstechnik zu nutzen und die verbundenen Handlungsfelder ihrer Innovationssysteme erfolgreich zu gestalten

– Mit dem Thema generative Künstliche Intelligenz (KI) hat bei der Verbindung von Strategie 1.0 und 2.0 ein neues Kapitel begonnen

 

Literatur

[1] Höpner, A., „Deindustrialisierung kann kaum noch aufgehalten werden“. In: Handelsblatt, 18.Juni 2024, S.18

[2] Servatius, H.G., Strategie 5.0 zur Bewältigung der neuen Herausforderungen. In: Competivation Blog, 28.06.2022

[3] Servatius, H.G., Personalführung im Zeitalter eines Connective Managements. In: Competivation Blog, 19.01.2021

[4] Ansoff, I.H., Declerck, R.P., Hayes, R.L. (Hrsg.), From Strategic Planning to Strategic Management, John Wiley 1976

[5] Simon, H., Hidden Champions des 21.Jahrhunderts –  Die Erfolgsstrategien unbekannter Weltmarktführer, Campus 2007

[6] Hayes, R.H., Wheelwright, S.C., Restoring Our Competitive Edge – Competing Through Manufacturing, John Wiley 1984

[7] Servatius, H.G., Methodik des strategischen Technologie-Managements – Grundlage für erfolgreiche Innovationen, Erich Schmidt 1985

[8] Schein, E.H., Organizational Culture and Leadership – A Dynamic View, Jossey Bass 1986

[9] Bleicher, K., Das Konzept Integriertes Management, Campus 1991

[10] Müller, A.W., Müller-Stewens, G., Strategie Foresight –  Trend- und Zukunftsforschung in Unternehmen –  Instrumente, Prozesse, Fallstudien, Schäffer Poeschel 2009

[11] Mintzberg, H., Ahlstrand, B., Lampel, J., Strategy Safari – Eine Reise durch die Wildnis des strategischen Managements, Ueberreuter 1999

[12] Porter, M.E., Competitive Strategy – Techniques for Analyzing Industries and Competititors, The Free Press 1980

[13] Rappaport A., Creating Shareholder Value – The New Standard for Business Performance, The Free Press 1986

[14] Kirsch, W., Roventa, P. (Hrsg.), Bausteine des Strategischen Managements – Dialoge zwischen Wissenschaft und Praxis, De Gruyter, 1983

[15] Ronstadt, R.C., Entrepreneurship – Text, Cases and Notes, Lord Publishing 1984

[16] Gladstone, D.J., Venture Capital Handbook – An Entrepreneur’s Guide to Obtaining Capital To Start a Business, Buy a Business, Or Expand An Existing Business, Reston Publishing 1983

[17] Servatius, H.G., New Venture Management – Erfolgreiche Lösung von Innovationsproblemen für Technologie-Unternehmen, Gabler 1988

[18] Simon, H.A., The Sciences of the Artificial, 2.Aufl., MIT Press 1981 (1.Aufl. 1969)

[19] Brockhoff, K., Forschung und Entwicklung – Planung und Kontrolle, Oldenbourg 1988

[20] Zäpfel, G., Strategisches Produktionsmanagement, De Gruyter Oldenbourg 2000

[21] Zahn, E. (Hrsg.), Handbuch Technologie-Management, Schäffer-Poeschel 1995

[22] Servatius, H.G., Piller, F.T. (Hrsg.), Der Innovationsmanager – Wertsteigerung durch ein ganzheitliches Innovationsmanagement, Symposion 2014

[23] Servatius, H.G., Dreifache strategische Neuausrichtung, In: Competivation Blog, 07.06.2024

[24] Osterwalder, A., Pigneur, Y., Business Model Generation – A Handbook for Visionaries, Game Changers, and Challengers, Wiley 2010

[25] Mc Afee, A., The Geek Way – The Radical Mindset That Drives Extraordinary Results, Macmillan Business 2023

[26] Ries, E., The Lean Startup – How Today’s Entrepreneurs Use Continuous Innovation to Create Radically Successful Businesses, Crown Currency 2011

[27] Rogers, D.L., The Digital Transformation Roadmap – Rebuild Your Organization for Continuous Change, Columbia Business School Publishing 2023

[28] Brüntjen, J.S., Narat, I., Maisch, M., Kursbebeben erschüttert Nvidia. In: Handelsblatt, 26.Juni 2024, S.30-31

[29] Kaufmann, T. Servatius, H.G., Das Internet der Dinge und Künstliche Intelligenz als Game Changer – Wege zu einem Management 4.0 und einer digitalen Architektur, Springer Vieweg 2020, S.203 ff.

Dreifache strategische Neuausrichtung

Dreifache strategische Neuausrichtung

Gegenwärtig stehen viele Unternehmen vor der Aufgabe, digitaler, nachhaltiger und resilienter zu werden. Ein Beispiel für diese dreifache strategische Neuausrichtung liefert die Automobilindustrie. Der notwendige komplexe Prozess erfordert den Wandel eines Systems verbundener Handlungsfelder. Es stellt sich die Frage, wie es Unternehmen gemeinsam mit der Politik, Wissenschaft und Gesellschaft gelingen kann, einen derartigen Prozess zu meistern.

 

In diesem Blogpost erläutere ich den Unterschied zwischen den Begriffen Transformation und Neuausrichtung und begründe, warum das Transformationskonzept auf einem nicht mehr zeitgemäßen Managementverständnis basiert, das leider immer noch weit verbreitet ist.

 

Automobilunternehmen, die digitaler, nachhaltiger und resilienter werden müssen

Etablierte Automobilunternehmen befinden sich in der fünften Entwicklungsstufe eines verbindenden strategischen Managements,1 in der sie digitaler, nachhaltiger und resilienter werden müssen. Für eine solche dreifache Neuausrichtung (Triple Realignment) liefern die Managementtheorie und -praxis bislang kaum Anleitungen. Immer deutlicher wird aber, dass die Vorstellung von einer umfassenden, befristeten Transformation illusionär ist und nicht zu den gewünschten Ergebnissen führt.

Als wir 1994 unser Buch zum ökologischen Umsteuern von Automobilunternehmen publiziert haben, hätten wir nicht gedacht, dass die Mobilitätswende in Deutschland so lange dauert.2 Letztlich ist eine strategische Neuausrichtung auf nachhaltige Antriebsformen erst als Reaktion auf den Druck der Politik und des Wettbewerbs erfolgt. Die traditionellen Unternehmen der Branche befinden sich heute in einer Bedrohungslage, die von disruptiven Stakeholder-Ökosystemen ausgeht.3 Sie sind auf der Suche nach geeigneten Antworten und stellen sich auf einen komplexen Wandel mit verschiedenen Optionen ein.

Die Digitalisierung als zweites wichtiges Feld einer Neuausrichtung wird vor allen von den großen Tech-Konzernen und von Start-ups getrieben. Sie ist in verschiedenen Wellen verlaufen und betrifft sowohl das Produkt Automobil als auch wesentliche Geschäftsprozesse. Digitale Technologien haben den Charakter von Game Changern, was spätestens seit dem Hype um die generative Künstliche Intelligenz (KI) einer breiten Öffentlichkeit bewusst geworden ist.4 Auch in diesem Feld kommt es entscheidend auf die Gestaltung von innovativen Stakeholder-Ökosystemen an. Dabei eröffnet eine vertrauenswürdige KI für Europa durchaus Chancen.

Parallel zu diesen Entwicklungen hat mit den geopolitischen Krisen die Bedeutung einer resilienzorientierten Neuausrichtung zugenommen.5 Im Mittelpunkt steht dabei eine Verbesserung der Widerstandskraft westlicher Unternehmen in den verschiedenen Stufen der Wertschöpfung. Relevante Felder sind Rohstoffe, Batterien, Halbleiter und KI-Anwendungen. So ist z.B. der führende US-Chiphersteller Nvidia stark von dem taiwanesischen Auftragsfertiger TSMC abhängig.6 Das Beispiel zeigt, dass diese dritte Dimension einer Neuausrichtung zwar mit den anderen Dimensionen verbunden ist, aber spezifische Ansätze erfordert.

Die folgende Abbildung veranschaulicht die drei Dimensionen einer Neuausrichtung. Die spezifischen Ansätze betreffen die Übergänge

– von analog zu digitaler, aber auch vertrauenswürdig

– von primär finanzorientiert zu nachhaltiger, aber realistisch und

– von abhängig zu resilienter im Sinne von widerstandsfähig.

Für die europäische Wirtschaft und Politik ist dies eine zentrale Herausforderung der nächsten Jahre.

Lernprozess Innovationsstrategie

Hierzu ist es wichtig, den Unterschied zwischen dem weit verbreiteten Begriff Transformation und dem Begriff Neuausrichtung zu verstehen.

 

Unterschied zwischen Transformation und Neuausrichtung

Der Begriff Transformation hat eine längere Entwicklungsgeschichte. Bereits 1944 verwendet ihn Karl Polanyi als politischen Kampfbegriff, um seiner Forderung nach einem Wandel des kapitalistischen Systems Ausdruck zu verleihen.7 In den 1990er Jahren verstehen Consultants unter dem Begriff Transformation von Organisationen einen umfassenden Wandel.8 Damit streben sie eine Abgrenzung von dem als zu mechanistisch empfundenen Reengineering-Konzept an. Heute ist Transformation zu einem Schlagwort mit unklarem Inhalt geworden. Deutlich wird dies am Beispiel des aktuellen Begriffs Twin Transformation, der suggeriert, dass der digitale und der grüne Wandel einen Zwillingscharakter hätten.9

Um Ordnung in diese Begriffsunklarheiten zu bringen, unterscheiden wir beim Wandel von Organisationen zwischen einer zeitlichen und einer inhaltlichen Dimension. Als Transformation bezeichnen wir einen zeitlich befristeten, umfassenden Wandel. Damit rückt eine Transformationsaufgabe in die Nähe der Sanierung und wird von vielen Managementberatern inzwischen auch in diesem Sinne interpretiert. Demgegenüber verstehen wir unter einer Neuausrichtung einen längerfristig orientierten, spezifischen Wandel z.B. mit den Schwerpunkten Digitalisierung, Nachhaltigkeit oder Resilienz.

Lernprozess Innovationsstrategie

Die Vorstellung, eine digitale Transformation sei kurzfristig und umfassend möglich, unterschätzt die Komplexität der Aufgabe. Wir halten diese Vorstellung für illusionär. Eine solche Transformationsillusion ist die Ursache für viele Fehlschläge.

Der Begriff der Ausrichtung (Alignment) eines Unternehmens beschreibt eine gut abgestimmte Verbindung wichtiger Systemelemente (z.B. Geschäftsmodell, Strategie, Innovation, Kernkompetenzen, Organisation, IT-Systeme, Kultur und Stakeholder) im Hinblick auf eine gemeinsame Vision und einen Sinn. Im Verlauf ihrer Entwicklung ist in vielen Unternehmen ein solches Alignment verloren gegangen und gleichzeitig stellt sich die Aufgabe einer Neuausrichtung im Sine eines Realignments.10

Ausgehend von diesen Definitionen möchte ich im folgenden der Frage nachgehen, worin die Komplexität einer dreifachen Neuausrichtung besteht und mit welcher Vorgehensweise Unternehmen diese Komplexität bewältigen können.

 

Komplexität einer dreifachen Neuausrichtung

Eine zentrale Erkenntnis ist, dass die Komplexität einer dreifachen Neuausrichtung in der Verbindung verschiedener Handlungsfelder liegt. Dieses Triple Realignment erfordert den Wandel eines komplexen Systems. Die Transformationsillusion besteht in der Annahme, ein solcher Wandel sei mit Hilfe einer einmaligen Top-down-Planung möglich. Dieses mechanistische Strategie-Paradigma ist überholt und inzwischen von einem neuen Paradigma verdrängt worden, in dessen Zentrum die Bewältigung von Komplexität steht.11 In der Abbildung sind wichtige Handlungsfelder einer solchen Neuausrichtung dargestellt.

Lernprozess Innovationsstrategie

In den vergangenen sechzig Jahren ist die Entwicklung des strategischen Managements in fünf Stufen verlaufen. Eine Strategie 5.0 verbindet die Entwicklungsstufen. Unternehmen bewältigen diese Konnektivität in verschiedenen Handlungsfeldern. Eine wichtige Rolle spielt dabei die gemeinsame Vision als Klammer für eine Innovations-, Nachhaltigkeits- und Resilienzstrategie. Aus diesen Strategien ergeben sich die Schwerpunkte einer Neuausrichtung der Geschäftsmodelle.

Ein zweites Handlungsfeld ist die Reaktion auf oder Gestaltung von disruptiven Stakeholder-Ökosystemen. Dabei ist das Forschungs- und Entwicklungs (F&E-) Management von Unternehmen gemeinsam mit Akteuren aus Politik, Wissenschaft und Gesellschaft auf das Erreichen von Wettbewerbsvorteilen bei innovativen Technologien gerichtet.

Handlungsfeld Nummer drei ist die digitale, nachhaltige und resiliente Wertschöpfung. Ein aktuelles Thema ist hierbei gegenwärtig die Produktivitätssteigerung mit KI-basierten Geschäftsprozessen und wissensintensiven Anwendungen. Dieses Thema betrifft nahezu alle Branchen und Unternehmensgrößen.

Die Bewältigung dieser Handlungsfelder erfordert einen Wandel der Personalführung und Kultur sowie die Entwicklung von neuen Kompetenzen. Wichtige Impulse zur Komplexitätsbewältigung gehen dabei von einer verbindenden Führung mit agilen Methoden aus, die Start-ups und Digital-Champions konsequenter umgesetzt haben als etablierte Unternehmen.

Hierbei besteht ein enger Zusammenhang zum Wandel der Organisation, der IT-Architektur und des Projektmanagements. Etablierten Unternehmen fällt es schwer, das bei Digital-Champions entstandene Konzept einer Plattform-Organisation mit agilen Teams auf ihre eigene Situation zu übertragen.

Handlungsfeld Nummer sechs ist die Wertsteigung mit einer finanziellen und nicht-finanziellen Berichterstattung. Viele Unternehmen beschränken sich auf ein reaktives Vorgehen zur Erfüllung von neuen Nachhaltigkeitsrichtlinien. Sinnvoller erscheint es, das Thema Nachhaltigkeit als Innovationschance zu sehen.

Ein Erfolg versprechendes Vorgehen bei dieser dreifachen Neuausrichtung, das verschiedene Handlungsfelder verbindet, geht von einer Gliederung in Phasen und Lernschleifen aus. Dieses Vorgehen unterscheidet sich grundlegend von starren Roadmap-Konzepten,12 die in der Literatur weit verbreitet, in der Praxis aber häufig gescheitert sind.

 

Vorgehen bei einer dreifachen Neuausrichtung

Eine Gliederung des Vorgehens bei komplexen Aufgaben in Phasen und Lernschleifen basiert auf dem Modell des Action Learning, das auch die Grundlage für agile Methoden bildet. Ähnlich wie bei der Skalierung agiler Teams liegt die Herausforderung hier darin, die gesamte Organisation in einem iterativen Prozess zusammenzuführen. In der Praxis hat es sich bewährt, jede der Lernschleifen in die in der Abbildung dargestellten sechs Phasen zu gliedern.

Lernprozess Innovationsstrategie

Am Anfang einer Neuausrichtung steht die Analyse der spezifischen Ausgangssituation des Unternehmens verbunden mit einem Blick in die Zukunft (Foresight). Ein besonderes Augenmerk sollte dabei auf der Früherkennung möglicher radikaler Veränderungen liegen. Dies erfordert eine ausgeprägte kontextuelle Intelligenz, um die Komplexität externer Entwicklungen richtig einzuschätzen.

In einer nächsten Phase stellt sich die Aufgabe, für die dreifache Neuausrichtung eine Vision zu entwickeln. Ein Auslöser kann die Notwendigkeit sein, Krisen zu meistern und Resilienz zurückzugewinnen. Sinn stiftend wirkt dabei für viele Unternehmen das Thema Nachhaltigkeit. Dabei liefern digitale Technologien das Potenzial für eine Erneuerung. Entscheidend ist, die Mitarbeitenden in diesen Prozess einzubeziehen und glaubwürdig eine Aufbruchsstimmung zu vermitteln, die die positive Energie für die nachfolgenden Phasen liefert.

Die Vision bildet den Rahmen für eine Priorisierung der Dimensionen digital, nachhaltig und resilient sowie der Handlungsfelder einer Neuausrichtung. In einer ersten Lernschleife bearbeitet das Unternehmen die Herausforderungen mit der höchsten Priorität. Die Erledigung von geringer priorisierten Aufgaben erfolgt nach dem gleichen Muster in späteren Lernschleifen. Dieses iterative Vorgehen leistet einen wichtigen Beitrag zur Komplexitätsbewältigung. Häufig bewertet die Führung nach jeder Lernschleife die aktuelle Situation des Unternehmens und seines Umfelds neu.

In vielen Unternehmen scheitert eine dreifache Neuausrichtung an dem vorhandenen Governance-Modell. Dabei verstehen wir unter Governance das Zusammenspiel von Personalführung, Kultur, Organisation und Kontrolle. Der Aufsichtsrat muss sicherstellen, dass die Governance für den Wandel dieses komplexen Systems geeignet ist und entsprechende Maßnahmen ergreifen, wenn dies nicht der Fall ist. Daher ist diese vierte Phase für den Gesamterfolg von entscheidender Bedeutung. Ein falsch verstandenes Transformationskonzept trägt dazu bei, dass sich die Wahrscheinlichkeit eines gemeinsames Versagens von Aufsichtsgremium, Führung, Mitarbeitenden und externen Beratern erhöht. Dabei kann es möglich sein, dass vor der Neuausrichtung eine Sanierung erforderlich ist. Wichtig ist, dies dann aber auch klar zu kommunizieren und sich nicht hinter einem vage formulierten Transformationsbegriff zu verstecken.

Eine weitere wichtige Hürde ist die Umsetzung in Form von Programmen und Projekten, die in Phase fünf erfolgt. Hierbei hat sich die Koordination der Handlungsfelder mit Hilfe eines agilen und transparenten Performance Managements bewährt. Ein geeigneter Ansatz ist die Objectives and Key Results (OKR-) Methode. Diese wird von Start-ups und erfolgreichen Digital-Giganten erfolgreich angewendet, stößt in etablierten Unternehmen aber immer noch häufig auf die Barrieren einer Silo-Kultur. Insofern baut der Erfolg der einzelnen Phasen aufeinander auf. Ohne eine geeignete Governance in Phase vier wird die Koordination der Handlungsfelder nicht gelingen. Daher sind bei diesem Prozess die Rückkopplungen von großer Bedeutung.

Die sechste und letzte Phase ist die Personalentwicklung in Form eines spezifischen Handlungslernen von Vielen. Angesichts der zunehmenden Bedeutung der generativen KI stehen Unternehmen zunehmend vor der Frage, wie sie während einer laufenden digitalen Neuausrichtung die Weiterbildung vieler Mitarbeitender gestalten sollen. Da es in der jüngeren Wirtschaftsgeschichte nichts Vergleichbares gegeben hat, sind hier neue Wege gefragt. Diese müssten schon bei der Schulausbildung beginnen. Leider hat Deutschland das weitgehend verschlafen und steht nun vor einer Weiterentwicklung seines Bildungssystems. Hierauf kann die Wirtschaft aber nicht warten und muss beim Thema Personalentwicklung selbst die Initiative ergreifen.

Unsere praktische Erfahrung zeigt, dass diese Vorgehensweise den Charakter eines Rahmenkonzepts hat, das jedes Unternehmen an seine spezifische Situation anpassen muss. Wir unterstützen Führungskräfte bei dieser Anpassung, indem wir Beratung mit Personalentwicklung verknüpfen. Auf diese Weise erreichen wir für unsere Klienten ein besseres Preis-Leistungsverhältnis als beim klassischen Management Consulting.

 

Fazit

  • Unternehmen müssen gegenwärtig eine dreifache strategische Neuausrichtung  meistern und sowohl digitaler als auch nachhaltiger und resilienter   werden
  • Dabei verstehen wir unter dem Begriff Neuausrichtung einen längerfristig orientierten, spezifischen Wandel
  • Die Komplexität einer dreifachen Neuausrichtung besteht in der Bearbeitung verschiedener Handlungsfelder, die miteinander verbunden sind
  • Bei dieser Form des Wandels hat sich einer iterativer Prozess bewährt, der in Phasen und Lernschleifen gegliedert ist

 

Literatur

[1] Servatius, H.G., Strategie 5.0 zur Bewältigung der neuen Herausforderungen. In: Competivation Blog, 28.06.2022

[2] Berger, R., Servatius, H.G., Krätzer, A., Die Zukunft des Autos hat erst begonnen – Ökologisches Umsteuern als Chance, Pieper 1994

[3] Servatius, H.G., Gestaltung von innovativen Stakeholder-Ökosystemen. In: Competivation Blog, 10.01.2023

[4] Kaufmann, T., Servatius, H.G., Das Internet der Dinge und Künstliche Intelligenz als Game Changer – Wege zu einem Management 4.0 und einer digitalen Architektur, SpringerVieweg 2020

[5] Servatius, H.G., Resilienzorientiertes strategisches Management. In: Competivation Blog, 15.03.2023

[6] Hofer, J. et al., NvidiasTaiwan-Risiko. In: Handelsblatt, 28.Mai 2024, S.1, 4-5

[7] Polanyi, K., The Great Transformation – Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, Suhrkamp 1973

[8] Goullart, F.J., Kelly, J.N., Transforming the Organization, Mc Graw Hill 1995

[9] Christmann, A.S., et al., The Twin Transformation Butterfly. In: Business Information Systems Engineering, 23.Januar 2024

[10] Trevor, J., Re:Align – A Leadership Blueprint for Overcoming Disruption and Improving Performance, Bloomsbury 2022

[11] Servatius, H.G., Mit einer Strategie 5.0 zu Erfolgen bei Digital GreenTech. In: Fesidis, B., Röß, S.A., Rummel, S.(Hrsg.), Mit Digitalisierung und Nachhaltigkeit zum klimaneutralen Unternehmen, SpringerGabler 2023, S.71-94

[12] Rogers, D.L., The Digital Transformation Roadmap – Rebuild Your Organization for Continuous Change, Columbia Business School Publishing 2023

Strategie 5.0 zur Bewältigung der neuen Herausforderungen

Strategie 5.0 zur Bewältigung der neuen Herausforderungen

Das strategische Management hat sich in den letzten Jahrzehnten weiterentwickelt und inzwischen eine fünfte Entwicklungsstufe erreicht. Diese verbindet Erkenntnisse der früheren Stufen. Eine wichtige Aufgabe in offenen Strategie 5.0-Prozessen von Unternehmen ist die gemeinsame Gestaltung von Stakeholder-Ökosystemen.

 

In unserem neuen Blogpost skizzieren wir die fünf Entwicklungsstufen des strategischen Managements

 

Krise als Chance

Wie können die europäischen Staaten und Unternehmen aus der aktuellen Krise gestärkt hervorgehen? Philipp Freise, der Co-Leiter des europäischen Private-Equity-Geschäfts beim Finanzinvestor KKR, vertritt die These, die Krise könne eine Innovationswelle anstoßen und den Wandel in Europa beschleunigen.1

Hierzu erscheint es jedoch erforderlich, dass die Unternehmen ihr strategisches Management weiterentwickeln. Wir stellen zur Diskussion, wie ein solcher nächster Evolutionsschritt aussehen könnte.

 

Wurzeln und Entwicklungsstufen des strategischen Managements

Aufgabe des strategischen Managements ist es, die großen Herausforderungen von Unternehmen zu meistern und Chancen zu nutzen. Da sich das Umfeld in den letzten Jahrzehnten stark verändert hat, musste sich auch das strategische Management anpassen. Wir unterscheiden zwischen den folgenden Entwicklungsstufen:

  • der Markt- und Veränderungsorientierung (Strategie 1.0)
  • einer Technologie- und Innovationsorientierung (Strategie 2.0)
  • der Nachhaltigkeitsorientierung (Strategie 3.0) und
  • einer Resilienzorientierung (Strategie 4.0)

Diese Stufen bauen aufeinander auf. Im Mittelpunkt steht jeweils eine dominierende Herausforderung.

 

Lernprozess Innovationsstrategie

 

Die Wurzeln der ersten Entwicklungsstufe des strategischen Managements liegen im militärischen Sektor, in der Philosophie und Politik, in der Business Policy, beim Thema Corporate Foresight und in der Organisationsentwicklung. Bei der aus der strategischen Planung in den 1970er Jahren entstandenen ersten Stufe des strategischen Managements lag der Fokus auf der Erzielung von Wettbewerbsvorteilen in den Absatz- und Kapitalmärkten.2 Übergeordnetes Ziel dieses marktorientierten strategischen Managements (MSM) war die Steigerung des Unternehmenswertes für die Anteilseigner (Shareholder Value).3 Die Bedeutung, die das strategische Management weiteren Bezugsgruppen (Stakeholdern) beimaß, war eher gering, obwohl Wissenschaftler wie Edward Freeman frühzeitig eine andere Sichtweise vertraten.4

Relativ unabhängig von der strategischen Planung entstand aus dem Organizational Development, das von dem in die USA emigrierten deutschen Psychologie-Professor Kurt Lewin geprägt worden war, das veränderungsorientierte strategische Management. Bei einem solchen strategischen Wandel spielen lose gekoppelte Systembausteine eine wichtige Rolle. Der Veränderungsprozess kann sowohl evolutionär als auch transformativ ablaufen.

Ausgehend von Wurzeln in der Forschung und Entwicklung, dem Unternehmertum, der Finanzierung mit Wagniskapitel und dem Corporate Venture Management verlagerte sich Anfang der 1980er Jahre in einer zweiten Stufe der Fokus auf neue Technologien und Innovationsvorteile. Aus dem strategischen Technologiemanagement entwickelte sich das Fachgebiet Technologie, Innovation und Entrepreneurship.5 Start-ups wie Microsoft, Apple, Amazon und Google erkannten das Game-Changer-Potenzial digitaler Technologien und wurden so zu den wertvollsten Unternehmen der Welt. Für etablierte Organisationen ist der digitale Wandel heute eine der großen Herausforderungen.6 Sie stehen vor der Aufgabe, Defizite beim technologie- und innovationsorienterten strategischen Management (TSM) zu überwinden.

Die Wurzeln des Nachhaltigkeitsmanagements liegen in der Forstwirtschaft, der Umwelttechnik und Umweltpolitik, dem Thema Corporate Social Responsibility und der Umweltbewegung. Die Evolution der Nachhaltigkeitsorientierung von einem Nischenthema zur dritten Entwicklungsstufe des strategischen Managements (NSM) hat sich über einen längeren Zeitraum vollzogen. Der Fokus liegt dabei auf der Harmonisierung ökonomischer, ökologischer und sozialer Ziele. Ein großer Treiber ist der Klimawandel mit seinen Risiken und Chancen für Unternehmen. Viele Führungskräfte erkennen inzwischen die zunehmende Bedeutung von Stakeholdern z.B. aus Politik und Gesellschaft. Gleichzeitig ist das Interesse des Kapitalmarktes an Nachhaltigkeitsinnovationen gestiegen.7

Parallel zu den Entwicklungsstufen des strategischen Managements gab es immer wieder Phasen, die ein operatives Krisenmanagement erforderten. Mit der Corona-Pandemie, dem Krieg in der Ukraine und einem Auseinanderdriften von Gesellschaften hat die Krisenbewältigung eine neue politische Dimension erreicht. In dieser resilienzorientierten vierten Entwicklungsstufe des strategischen Managements (RSM) mit ihren Wurzeln z.B. in der Materialwirtschaft und Psychologie kommt es auf eine Wiedergewinnung der Handlungsfähigkeit an. Die Resilienzforschung liefert hierfür zwar Anregungen, befindet sich aber noch in einer frühen Entwicklungsphase.8 Ein aktuelles Beispiel ist die Bewältigung der Gaskrise mit ihren gravierenden Auswirkungen für Unternehmen und Verbraucher oder die Bekämpfung der Clan-Kriminalität durch eine wehrhafte Demokratie.

 

Verbindendes strategisches Management als fünfte Stufe

Der Zusatz 5.0 wurde bekannt durch den in Japan geprägten Begriff einer Gesellschaft 5.0, der die fünfte Entwicklungsstufe der Menschheitsgeschichte beschreibt.9 Dabei folgt nach dem Informationszeitalter ein Zeitalter der Vernetzung. Unsere Verwendung des Zusatzes 5.0 bezieht sich auf die wesentlich kürzere Entwicklungsgeschichte des strategischen Managements von Unternehmen.

Hier ist die gegenwärtige Situation durch eine Überlagerung der skizzierten Herausforderungen gekennzeichnet. Der Fokus sollte daher auf der Verbindung und Weiterentwicklung der Erkenntnisse aus früheren Stufen liegen. Wir sehen in diesem Megatrend Konnektivität das zentrale Kennzeichen einer fünften Entwicklungsstufe des strategischen Managements. Diese Stufe bezeichnen wir als Strategie 5.0. Bei dem verbindenden strategischen Management (VSM) ergeben sich verschiedene Formen der Konnektivität. So erfordern z.B. Nachhaltigkeitsinnovationen eine ausgeprägte T-N-Konnektivität.

 

Lernprozess Innovationsstrategie

 

Der Weg zu einer Strategie 5.0 ist auch durch die Weiterentwicklung der Strategieprozesse und der Disruptionstheorie gekennzeichnet. Bei den Strategieprozessen beschreibt der Begriff Open Strategy die Öffnung bezüglich der beteiligten Akteure.10 Eine neue Disruptionstheorie liefert den Rahmen für die Disruption durch Stakeholder-Ökosysteme.11 Dabei entstehen aus der Zusammenarbeit mit Partnern innovative Wert-Architekturen.

Ein Beispiel ist die Evolution von Amazon Alexa von einem intelligenten Lautsprecher, der schrittweise seine Skills erweitert und dabei externe Entwickler hinzugewinnt, zu einem zentralen Baustein in den Smart-Home-Komponenten einer Vielzahl von Anbietern. In der fünften Entwicklungsstufe des strategischen Managements erreicht diese neue Disruptionstheorie weitere Stakeholder-Gruppen in Politik und Gesellschaft. Ein Beispiel hierfür ist der Übergang zur Elektromobilität.

Eine wichtige Aufgabe im Rahmen von Strategie 5.0-Prozessen ist die gemeinsame Gestaltung von Stakeholder-Ökosystemen. Das Zusammenwirken von Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft in einem offenen Prozess ist in der Stakeholder-Ökonomie zu einem Erfolgsfaktor mit Disruptionswirkung geworden. Die entsprechenden konnektiven Fähigkeiten haben den Charakter einer strategischen Kernkompetenz.12 Methoden wie das Systemic Design können zu einer Verbesserung des gemeinsamen Verständnisses beitragen.13

 

Lernprozess Innovationsstrategie

 

Ein Beispiel für ein solches disruptives Stakeholder-Ökosystem ist die entstehende Wasserstoffwirtschaft. Dabei ergibt sich die Disruptionswirkung für andere Ökosysteme aus der Wahl der richtigen Partner und Vorteilen bei den politischen Rahmenbedingungen. So bezieht der Kunststoffhersteller Covestro künftig jährlich 100.000 Tonnen grünen Wasserstoff vom australischen Hersteller Fortescue Future Industries (FFI). FFI ist ein Pionier auf dem Markt und nutzt die zu günstigen Preisen verfügbare erneuerbare Energie in Australien.14 Beim Thema Stahlherstellung mit Wasserstoff kritisieren Experten hingegen das Fehlen eines klaren Plans für den Aufbau der erforderlichen neuen Energieinfrastruktur in Mitteleuropa.15 Gleichzeitig strebt China an, eine weltweite Vorreiterrolle beim grünen Wasserstoff zu übernehmen.16

Es stellt sich nun die Frage, was die praktischen Implikationen dieser neuen Entwicklungsstufe des strategischen Managements sind. Wir gehen hierzu auf die folgenden drei Aspekte ein: Schaffen von Next Practices, sektorübergreifende Lernprozesse und ein verbindendes Führungsklima.

 

Schaffen von Next Practices

Die Suche nach Best Practices führt in der Regel zu den digitalen Champions und Nachhaltigkeitspionieren, die eher für Erfolge in den Stufen zwei und drei stehen. Echte Best-Practice-Beispiele für die Stufe fünf gibt es bislang erst wenige. Unternehmen sollten daher beginnen, eine erfolgreiche Next Practice selbst zu schaffen.

 

Sektorübergreifende Lernprozesse

Die Gestaltung von Stakeholder-Ökosystemen ist eine Gemeinschaftsaufgabe von Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft. Die Verantwortlichen stehen vor der Aufgabe, gemeinsam agile intersektorale Programme für Themen wie Datensouveränität, Digital GreenTech und eine grüne Wasserstoffwirtschaft umzusetzen. Aus den Lernprozessen in diesen Programmen können sich dann Next Practices ergeben.

Ein Beispiel ist die Initiative Catena-X, bei der ein von BMW uns SAP initiiertes Konsortium ein Innovationsnetzwerk zur nachhaltigen Digitalisierung der Automobilwertschöpfung aufbaut.17 Ein wichtiges Ziel besteht in der Verringerung der Abhängigkeit von den großen IT-Konzernen aus den USA, die das Geschäft mit Cloud-Diensten dominieren. Zentrales Element ist ein Connector, der durch Standardisierung den Datenaustausch zwischen den Akteuren erleichtert. Catena-X basiert auf den Grundprinzipien von Gaia-X, dem europäischen Projekt zum Aufbau einer eigenen Cloud-Infrastruktur. Man hat jedoch aus dessen zu langsamen, bürokratischen Vorgehen gelernt und möchte eher wie ein Schnellboot operieren.

 

Verbindendes Führungsklima

Der Erfolg derartiger Programme hängt von der Entstehung eines verbindenden Führungsklimas ab. Entscheidende Impulse können dabei von Vorbildern und ihren Erfahrungen ausgehen. Für deren Verbreitung kommt der Personalentwicklung eine wichtige Rolle zu.

In meiner praktischen Tätigkeit als Senior Advisor, Führungskräfte-Coach und Hochschullehrer unterstütze ich Projekte zur Anwendung des Themas Strategie 5.0. Eine Grundlage hierfür bildet unser neuer Managementkurs.

 

Fazit

  • Unternehmen müssen gegenwärtig eine Reihe neuer strategischer Herausforderungen gleichzeitig bewältigen
  • Diese Situation erfordert eine Weiterentwicklung des strategischen Managements. Diese baut auf den vorhandenen vier Entwicklungsstufen auf und verbindet sie
  • Wir bezeichnen die nächste Entwicklungsstufe eines verbindenden strategischen Managements (VSM) als Strategie 5.0
  • Eine wichtige Aufgabe im Rahmen von Strategie 5.0-Prozessen ist die gemeinsame Gestaltung von Stakeholder-Systemen mit Disruptionswirkung. Dies erfordert konnektive Fähigkeiten.
  • Unternehmen sollten beginnen, beim Thema Strategie 5.0 erfolgreiche Next Practices zu schaffen

 

Literatur

[1] Freise, P., Mehr Stärke für die Zukunft. In: Handelsblatt, 15. Juni 2022, S. 48

[2] Porter, M.E. Competitive Advantage – Creating and Sustaining Superior Performance, New York 1985

[3] Rappaport, A., Creating Shareholder Value – The New Standard for Business Performance, New York 1986

[4] Freeman, R.E.: Strategic Management – A Stakeholder Approach, Cambridge 2010

[5] Servatius, H.G., Methodik des strategischen Technologiemanagements – Grundlage für erfolgreiche Innovationen, Berlin 1985

[6] Kaufmann, T., Servatius, H.G., Das Internet der Dinge und Künstliche Intelligenz als Game Changer – Wege zu einem Management 4.0 und einer digitalen Architektur, Wiesbaden 2020

[7] Hargadon, P., Sustainable Innovation – Build Your Company’s Capacity to Change the World, Stanford 2015

[8] Brunnermeier, M.K., Die resiliente Gesellschaft – Wie wir künftige Krisen besser meistern können, Berlin 2021

[9] Hitachi-UTokyo Laboratory (Hrsg.), Society 5.0 – A People-centric Super-smart Society, Singapur 2020

[10] Stadler, C., Hautz, J., Matzer, K., von der Eichen, F., Open Strategy – Mastering Disruption from Outside the C-Suite, Cambridge 2021

[11] Adner, R., Winning the Right Game – How to Disrupt, Defend and Deliver in a Changing World, Cambridge 2021

[12] Servatius, H.G., Mentoring-Programme für die Entwicklung konnektiver Fähigkeiten. In: Competivation Blog, 10.05.2021

[13] Jones, P., Van Ael, K., Design Journeys Through Complex Systems – Practice Tools for Systemic Design, Amsterdam 2022

[14] Fröndhoff B., Stratmann, K., Wettlauf um Wasserstoff. In: Handelsblatt, 17. Januar 2022, S. 1, 4-5

[15] Imwinkelried, D., Grüner Umbau mit Tücken. In: Handelsblatt, 10. Mai 2022, S. 22

[16] Gusbeth, S., China greift bei grünem Wasserstoff an. In: Handelsblatt, 28. Juni 2022, S. 12-13

[17] Kerkmann, C., Datenstecker für die Autoindustrie. In: Handelsblatt, 21. Juni 2022, S.20

Konnektivität bei Nachhaltigkeitsinnovationen

Konnektivität bei Nachhaltigkeitsinnovationen

In den verschiedenen Entwicklungsphasen der Managementlehre sind spezifische Konnektoren entstanden, die die Aufgaben von Führungskräften verbinden. Die Komplexitätsbewältigung bei Nachhaltigkeitsinnovationen erfordert neue Formen der Konnektivität.

 

In diesem Blogpost erläutern wir die zunehmende Bedeutung eines gemeinsamen Designs von Stakeholder-Systemen für sektorübergreifende Innovationsprogramme von Wissenschaft, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft.

 

Green Transition der BASF

Der Chemiekonzern BASF plant einen Systemwechsel, bei dem das Unternehmen fossile Rohstoffe durch biobasierte ablösen möchte. Außerdem soll die Prozessenergie aus grünem Strom statt aus Gas kommen. Weitere Schwerpunkte sind die Entwicklung von CO2-freien Verfahren sowie der weitere Ausbau einer Kreislaufwirtschaft und der Digitalisierung. Das Ziel ist, bis 2050 die CO2-Emissionen auf null zu reduzieren.1 Für diesen Umbau der BASF passt der Begriff Green Transition. Allerdings muss sich hierzu in Deutschland die Versorgungslage mit erneuerbaren Energien verbessern.

Das Beispiel zeigt, dass die Unternehmensführung bei Nachhaltigkeitsinnovationen eine Reihe neuer Herausforderungen zu bewältigen hat. Ein Blick auf die Entwicklung der Managementlehre macht deutlich, welche verbindenden Kräfte in den verschiedenen Phasen entstanden sind. Diese Bindungskräfte bezeichnen wir als Konnektoren.

 

Konnektoren in verschiedenen Entwicklungsphasen der Managementlehre

Die Entwicklung der Managementlehre wurde durch neue Herausforderungen im Umfeld von Unternehmen geprägt. Diese Entwicklung gliedern wir in die folgenden Phasen:

  1. Die klassischen Management-Funktionslehren
  2. die Unterscheidung zwischen einer normativen, strategischen und operativen Managementebene
  3. die Entstehung der Querschnittsdisziplinen Innovations- und Nachhaltigkeitsmanagement sowie
  4. die Erweiterung der Shareholder- zu einer langfristig orientierten Multi-Stakeholder-Perspektive

Am Beginn der modernen Managementwissenschaft standen betriebswirtschaftliche Funktionslehren wie Beschaffung, Produktion, Vertrieb und Finanzen. Zur Bewältigung der damit verbundenen Komplexität bedurfte es spezifischer Konnektoren wie der Personalführung, verschiedener Organisationsformen, des Produkt- und Projektmanagements sowie einer gemeinsamen Kultur, die die Funktionsbereiche von Unternehmen verbinden.2

Als Ergänzung zu diesen Management-Funktionslehren entstanden in einer zweiten Entwicklungsphase die Ebenen eines normativen, strategischen3 und operativen Managements, die durch das Konzept eines integrierten Managements verbunden sind.4 Weitere Konnektoren im Rahmen dieser Entwicklungsphase sind eine Vision und ein Leitbild (Mission) sowie die operative Umsetzung von Strategien und das Performance Management mit Zielen, Leistungsmessgrößen und Ergebnissen.5

 

Lernprozess Innovationsstrategie

 

Eine dritte Entwicklungsphase begann mit der Entstehung der Querschnittsdisziplinen des Innovations-6 und des Nachhaltigkeitsmanagements,7 die klassische Aufgaben durchdringen.8 Der Begriff Nachhaltigkeitsinnovation und das Kunstwort Sustainovation beschreiben die Schnittmengen zwischen diesen Disziplinen.9 Wichtige Konnektoren in dieser dritten Phase sind unter anderem neue Führungsrollen und die Fähigkeit zur Verbindungsarbeit.

 

Neue Führungsrollen und die Fähigkeit zur Verbindungsarbeit

Angesichts der Digitalisierung und des Klimawandels ist neben dem strategischen und dem operativen Management die Bedeutung des Innovations- und des Nachhaltigkeitsmanagements gestiegen. Im Zuge dieser Entwicklung sind neue Führungsrollen wie die eines Chief Innovation Officers (CINO), eines Chief Digital Officers (CDO) und eines Chief Sustainability Officers (CSO) entstanden. Aufgrund der Entwicklungsdynamik verwundert es nicht, dass Unternehmen die verbindenden Rollen dieser Führungskräfte unterschiedlich interpretieren.10 Zwischen dem strategischen und dem operativen Managements sowie dem Innovations- und dem Nachhaltigkeitsmanagement gibt es verschiedene Schnittmengen. wie z.B. das strategische Nachhaltigkeitsmanagement (SNM), die Aufgaben mit einem hohen Koordinationsbedarf beschreiben.

 

 

Innovations- und Nachhaltigkeitsmanager benötigen als Systemgestalter, die verschiedene Systembausteine integrieren und mit anderen internen und externen Akteuren interagieren, eine spezifische Fähigkeit zur Verbindungsarbeit (Nexus Work).11 Zu der Rolle eines internen Brückenschlägers kommt die eines sektorübergreifenden Mittlers zwischen Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Gesellschaft. Das traditionelle Studium der Ingenieur- und Managementwissenschaft vermittelt die hierzu erforderlichen Fähigkeiten nur unzureichend.

Der Personal- und Führungskräfteentwicklung stellt sich daher die Aufgabe, diese verbindenden Fähigkeiten in einer praxisorientierten Weise zu trainieren.12 Unser Kursangebot zum Innovations- und Nachhaltigkeitsmanagement nutzt hierbei den Megatrend Konnektivität als Grundlage.13 Von besonderer Bedeutung ist die Verbindung von Anwendungen mit Technologien ausgehend von einem Connecting the Boxes Mindset.

 

Verbindung von Anwendungen mit Technologien und eine neue Organisationsform

Die Innovationsgeschichte kennt viele Verbindungen zwischen der Kombination vorhandener Technologien und einer neuen Anwendung. Das klassische Beispiel einer solchen rekombinanten Anwendungsinnovation ist die Einführung der Massenproduktion für Fords Modell T im Jahr 1908. Eine wichtige Rolle spielte dabei das Technology Brokering in Form einer Vermittlung von Wissen zwischen etablierten Branchen und der neuen Automobilindustrie. Diese Form von Cross Industry Innovation ist auch für das Thema Nachhaltigkeit von großer Bedeutung. Ein aktuelles Beispiel ist die Übertragung der in Erdgasaufbereitungsanlagen entstandenen Carbon Capture and Storage (CCS-) Technologie auf die Zementherstellung.

 

Lernprozess Innovationsstrategie

 

Daneben gibt es auch rekombinante technologische Innovationen mit einer Verbindung von neuen Technologien und einer vorhandenen Anwendung. Viele Neuerungen ausgehend von digitalen Querschnittstechnologien wie dem Internet der Dinge (IoT) und der Künstlichen Intelligenz (KI) basieren auf diesem Prinzip. Eine neue Form der Konnektivität entsteht durch die Verbindung von neuen digitalen Technologien und Umwelttechnik (Digital GreenTech) mit einer vorhandenen Anwendung. Ein Beispiel ist der Einsatz von KI im Wertstoffkreislauf der Papierindustrie.

Eine wichtige Erkenntnis ist, dass die Unsicherheit von Innovationen bei vorhandenen Anwendungen oder vorhandenen Technologien geringer ist als beim Typus der Systeminnovation, die durch neue Technologien und Anwendungen gekennzeichnet ist. Dabei beschreibt der Begriff Unsicherheit ein Risiko mit unbekannter Eintrittswahrscheinlichkeit und schwer abschätzbaren Folgen.

Die Umsetzung dieser Konnektivität von Anwendungen und Technologien erfolgt in führenden Digitalunternehmen mit Hilfe einer neuen Organisationsform. Eine solche Organisation verbindet agile Teams mit einer zentralen Ressourcen-Plattform und einem Partner-Netzwerk.14 Das zentrale Element dieser Organisation ist ein KI-basiertes Operating Model, das schnelle Lernprozesse, disruptive Geschäftsmodelle und eine erfolgreiche Skalierung ermöglicht. Von großer Bedeutung ist dabei die vertrauensvolle Zusammenarbeit mit Stakeholdern.

 

Gemeinsames Design von Stakeholder-Systemen und sektorübergreifende Innovationsprogramme

Die Wurzeln der vierten Entwicklungsphase des Managements liegen in einer Erweiterung der einige Jahrzehnte dominierenden Shareholder-Perspektive15 zu einem am langfristigen finanziellen Erfolg orientierten und auch sozial und ökologisch verantwortlichen Multi-Stakeholder Management.16 Zu diesen Bezugsgruppen des Unternehmens zählen

  • Anteilseigner (Shareholder) und Kunden
  • die Wissenschaft und Wertschöpfungspartner (z.B. Start-ups)
  • Politik, Justiz, Verwaltung und Verbände sowie
  • Mitarbeiter, Arbeitnehmervertreter, Umweltbewegungen, Medien und die Gesellschaft insgesamt.

Bei Nachhaltigkeitsinnovationen ist die Bewältigung der Stakeholder-Komplexität von entscheidender Bedeutung.17 Wichtige neue Konnektoren sind daher ein gemeinsames Design von Stakeholder-Systemen und sektorübergreifende Innovationsprogramme.

 

 

Der Leitgedanke eines solchen Stakeholder Systems Co-Design ist es, neue, flexible Pakte zwischen Wissenschaft, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zu schließen, wie es der Covestro-Chef Markus Steilemann vorschlägt.18 Dabei sei ein optimistisches und konstruktives Miteinander gefragt.

Beim Thema Stakeholder-Systeme wird deutlich, dass sich mit einer neuen Entwicklungsphase des Managements auch die Konnektoren der früheren Entwicklungsphasen weiterentwickeln. So erfordert ein gutes Management der Bezugsgruppen eine stärker verbindende Personalführung.19 Aus dem traditionellen Leitbild wird ein gemeinsamer Sinn oder Purpose, der Mitarbeiter, Kunden und Anteilseigner zusammenführt.20

Die spannende Frage ist, wie sektorübergreifende Programme für Nachhaltigkeitsinnovationen, wie z.B. das Thema grüner Wasserstoff, konkret ausgestaltet sein sollen. Ein mögliches, viel zitiertes Vorbild ist das Mondflug-Programm der USA aus den 1960er Jahren und das hieraus abgeleitete Modell einer Mission Economy.21 Dabei ist jedoch zu bedenken, dass sich die Rahmenbedingungen für das damalige Programm grundlegend von den gegenwärtigen Herausforderungen des Klimawandels unterscheiden. Zur Bewältigung der hierbei herrschenden Stakeholder-Komplexität gibt es bis heute keine Blaupause für Organisationen und Staaten. Dies ist eine große Chance für Unternehmen wie die BASF, die mit ihrer Green Transition neue Standards setzen möchten.

Der Übergang zu einer „grüneren Wirtschaft“ erfordert neben einheitlichen Berichtpflichten und passgenauen Bewertungskriterien22 möglicherweise auch entsprechende finanzielle Anreize für die Führungskräfte. Studien zeigen, dass das Thema Nachhaltigkeit in den Vergütungssystemen vieler Unternehmen bislang eher eine Nebenrolle spielt.23

Um zusammen mit Stakeholdern ambitionierte Nachhaltigkeitsziele zu erreichen, ist es wichtig, eine gemeinsame methodische Basis zu haben. Eine solche Methode ist das systemische Design. Entscheidend bei dessen Anwendung ist, dass die Gestaltung des Stakeholder-Systems nicht an die Kommunikationsabteilung delegiert, sondern zentraler Bestandteil einer neuen Führungsagenda wird.

 

Systemisches Design und eine neue Führungsagenda

Parallel zur Managementlehre haben sich seit den 1950er Jahren die Systemtheorien24 und das Design Thinking25 entwickelt und wechselseitig befruchtet, z.B. bei der Entstehung von agilen Konzepten wie Scrum.26 Dabei liegt das Nutzenversprechen der Systemtheorien und des Design Thinking in der Schaffung eines gemeinsamen methodischen Rahmens und Mindsets für die interdisziplinäre Zusammenarbeit bei der Bewältigung komplexer Probleme.

Aus diesen klassischen Konnektoren ist das systemische Design entstanden, das die Systemtheorien mit dem Design Thinking verbindet.27 Diese relativ neue Methodik hat sich bei der Anwendung in sektorübergreifenden Innovationsprogrammen bewährt. Die Akteure aus Wissenschaft, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft erhalten hiermit eine Gestaltungsgrundlage, die die Verständigung zwischen unterschiedlichen Bezugsgruppen fördert. Der Ansatz sollte daher zum zentralen Bestandteil einer programmbegleitenden Executive Education werden.

Im Mittelpunkt der sich abzeichnenden neuen Agenda für die Führung steht eine Weiterentwicklung des traditionellen strategischen Managements mit seiner einseitigen Shareholder-Value Orientierung. Dieses mehr als ein halbes Jahrhundert vorherrschende Management-Paradigma bedarf der Ergänzung um Strategien für Nachhaltigkeit und Innovation. Die Umsetzung dieser Strategien erfordert die aktive Mitwirkung der Führungsspitze beim Co-Design von Stakeholder-Systemen. Ein externes Mentoring kann einen wichtigen Beitrag leisten, um Nachwuchs-Führungskräfte auf diese Aufgabe vorzubereiten. Angesichts der neuen Herausforderungen bei der Nachhaltigkeitsberichterstattung ändert sich parallel dazu auch die Agenda des Verantwortlichen für Finanzen in Richtung Sustainable Finance.

Für die Führung in Politik und Wirtschaft hat der Gründer des Weltwirtschaftsforums Klaus Schwab die Vision einer Governance 4.0 skizziert.28 Ein Kennzeichen guter Governance im 21. Jahrhundert ist für ihn, dass Führungskräfte eine nachhaltige Wertsteigerung für alle relevanten Stakeholder anstreben. Diese Grundhaltung ist ein zentraler Ausgangspunkt für die Erfüllung von ESG-Kriterien aus Umweltschutz, sozialen Aspekten und Stakeholder-Management, die auch bei M&A-Aktivitäten immer wichtiger werden.29

 

Fazit

  • In den Entwicklungsphasen der Managementlehre sind spezifische verbindende Kräfte entstanden, die die Komplexitätsbewältigung von Unternehmen unterstützen
  • Die zunehmende Bedeutung des Innovations- und des Nachhaltigkeitsmanagements hat weitere Konnektoren hervorgebracht. Hierzu zählen neue Führungsrollen, die Fähigkeit zur Verbindungsarbeit, das Wechselspiel von neuen Technologien und Anwendungen und schließlich eine neue Organisationsform, die agile Teams und eine zentrale Ressourcen-Plattform mit dem Partnernetzwerk verknüpft
  • Nachhaltigkeitsinnovationen erfordern die aktive Gestaltung des Stakeholder-Systems eines Unternehmens und gemeinsame Programme von Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Gesellschaft. Eine methodische Hilfestellung leistet dabei die neue Methode des systemischen Designs
  • Innovation, Nachhaltigkeit und die Gestaltung des Stakeholder-Systems gehören zu den zentralen Punkten einer neuen Führungsagenda, die gegenwärtig entsteht

 

Literatur

[1] Fröndhoff, B., Hofmann, S., Schütze, A., BASF startet Umbau. In: Handelsblatt, 10./11./12. Dezember 2021, S. 3, 6-7

[2] Servatius, H.G., Komplexitätsbewältigung als Treiber eines Connective Managements. In: Competivation Blog, 31.03.2021

[3] Ansoff, H.I., Corporate Strategy – An Analytic Approach to Business Policy for Growth and Expansion, New York 1965

[4] Bleicher, K., Das Konzept Integriertes Management, Frankfurt 1991

[5] Servatius, H.G., Ebenenmodell für ein Connective Management. In: Competivation Blog, 16.03.2021

[6] Burns, T., Stalker, G.M., The Management of Innovation, London 1961

[7] Elkington, J., Cannibals with Forks – Triple Bottom Line of 21st Century Business, Oxford 1997

[8] Servatius, H.G., Innovations- und Nachhaltigkeitssysteme verbinden klassische Managementaufgaben. In: Competivation Blog, 09.09.2021

[9] Hargadon, A., Sustainable Innovation – Build Your Company’s Capacity to Change the World, Stanford 2015

[10] Servatius, H.G., Piller, F.T.(Hrsg.), Der Innovationsmanager – Wertsteigerung durch ein ganzheitliches Innovationsmanagement, Düsseldorf 2014

[11] Hargadon, a.a.O, S. 80 ff.

[12] Servatius, H.G., Mentoring-Programme zur Entwicklung konnektiver Fähigkeiten. In: Competivation Blog, 10.05.2021

[13] Servatius, H.G., Der Megatrend Konnektivität und seine Treiber. In: Competivation Blog, 26.10.2021

[14] Servatius, H.G., Die Ressourcen-Plattform mit agilen Teams als neue Organisationsform. In: Competivation Blog, 12.01.2021

[15] Rappaport, A., Creating Shareholder Value – The New Standard for Business Performance, London 1986

[16] O’Leary, M., Valdmanis, W., Accountable – The Rise of Citizen Capitalism, New York 2020, S. 148 ff.

[17] Servatius, H.G., Erfolgreiche Nachhaltigkeitsinnovationen mit verbesserten Stakeholder-Beziehungen. In: Competivation Blog, 20.02.2020

[18] Blume, J., Fröndhoff, B., „Alle Ampeln auf grüne Welle stellen“. In: Handelsblatt, 10./11./12. Dezember 2021, S. 24

[19] Servatius, H.G., Personalführung im Zeitalter eines Connective Managements. In: Competivation Blog, 19.01.2021

[20] Servatius, H.G., Nachhaltigkeitsinnovationen als Werttreiber in der Purpose Economy. In: Competivation Blog, 15.10.2020

[21] Mazzucato, M., Mission Economy – A Moonshot Guide to Changing Capitalism, Dublin 2021

[22] Servatius, H.G., Nachhaltige Entwicklung von Unternehmen mit einer Sustainability Map. In: Competivation Blog, 30.11.2021

[23] Palan, D., Grüne Heuchelei. In: Manager Magazin, Januar 2022, S. 116-119

[24] von Bertalanffy, L., General Systems Theory – Foundations, Development, Applications, New York 1968

[25] Arnold, J.E., Creative Engineering – Promoting Engineering by Thinking Differently, Stanford 1959

[26] Sutherland, J.J., The Scrum Fieldbook, New York 2019

[27] Jones, P., Kijima, K. (Hrsg.), Systemic Design – Theory, Methods, and Practice, Tokio 2018

[28] Schwab, K., Die Vision einer Governance 4.0. In: Handelsblatt, 21./22./23. Januar 2022, S. 64

[29] Seibt, C.H., Dealmaker mit gutem Gewissen. In: Manager Magazin, Februar 2022, S. 46

Warum der digitale Wandel evolutionär verläuft

Warum der digitale Wandel evolutionär verläuft

Der Versuch, etablierte Organisationen digital zu transformieren, führt oft zu enttäuschten Erwartungen. Eine digitale Evolution ist Erfolg versprechender.

 

In diesem Blogpost stellen wir das grundlegende Verständnis, wie sich der digitale Wandel vollzieht, auf den Prüfstand.

 

Defizite bei der Digitalisierung

Defizite bei der Digitalisierung haben in unserem Land viele Ursachen. Offensichtlich fehlen auf der politischen Ebene sowohl ein Konzept zur Koordination der verschiedenen Ministerien als auch ein Ansatz zur Umsetzung notwendiger Programme.1 Aber auch beim Technologietransfer von der Grundlagenforschung zu praktischen Anwendungen klaffen Anspruch und Wirklichkeit weit auseinander. So hat z.B. das mit vielen Millionen Euro geförderte Deutsche Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI) den Trend zum maschinellen Lernen verpasst.2

Neben diesen Versäumnissen geht aber auch das grundlegende Verständnis des digitalen Wandels möglicherweise von falschen Annahmen aus. Eine solche Fehleinschätzung ist die Vorstellung vieler Beobachter, die Digitalisierung verlaufe in Form einer Transformation.

 

Digitale Transformation oder Evolution?

Ohne Zweifel gehört die Digitalisierung zu den großen Herausforderungen für Organisationen. Es mehren sich jedoch die Stimmen von Praktikern, die meinen, der weit verbreitete Begriff digitale Transformation sei inzwischen zu einem Schlagwort mit unklarer Bedeutung geworden, das in die Irre führe und vielleicht sogar den Wandel gefährde.3 Immerhin spreche man seit rund fünfzig Jahren von Digitalisierung und ein Ende dieses Prozesses ist nicht absehbar.

Außerdem passe der Begriff digitale Evolution (oder Entwicklung) besser, da offene Systeme ständig in Bewegung sind. Hieraus resultiere die Bedeutung der Fähigkeit umzudenken, die den Erfolg von Digitalunternehmen ausmache. In einer Reihe von Branchen wie z.B. dem Handel komme es auch nicht zu einem vollständigen Wandel vom Analog- zum Digitalgeschäft, wie der Begriff Transformation suggeriere, sondern zu einer spezifischen Verbindung von analogen und digitalen Elementen.

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, dass digitale Transformationsprogramme oft nicht die mit diesem Begriff verbundenen hohen Erwartungen erfüllen. Dennoch hält sich die Vorstellung von einer umfassenden Transformation etablierter Organisationen ausgehend von digitalen Technologien hartnäckig.4

Häufig spricht man auch von einer notwendigen digitalen Transformation, wenn, wie z.B. in der öffentlichen Verwaltung, über Jahrzehnte versäumt wurde, notwendige Maßnahmen umzusetzen. In diesem Kontext hat der Begriff eine reaktive Komponente, die auf Führungsdefizite hindeutet.

Besorgniserregend ist darüber hinaus, dass der Begriff einer digitalen und auch ökologischen Transformation aller Lebensbereiche gerne von politischen Gruppierungen benutzt wird, die eigentlich einen umfassenden Systemwechsel mit radikalen Veränderungen anstreben. Transformation ist hier ein Tarnbegriff, der in Wahrheit eine politische Machtverschiebung meint, dies aber nicht offen ausspricht.

 

Gemeinsamkeit und Unterschiede

Beim Thema Digitalisierung hat die Managementlehre den Transformationsbegriff relativ unkritisch aus der Politikwissenschaft übernommen.5 Daher gehen wir der Frage nach, was mit Transformation und was mit Evolution gemeint ist. Hieraus ergeben sich die Unterschiede zwischen einer digitalen Transformation und einer digitalen Evolution.

Eine Gemeinsamkeit beider Konzepte ist die Anwendung digitaler Querschnittstechnologien, deren Ursprünge z.B. bei der Künstlichen Intelligenz in den 1950er Jahren und beim Internet der Dinge in den 1990er Jahren liegen.6 Insbesondere die Konvergenz dieser Technologiefelder zu einer Artificial Intelligence of Things (AIoT) hat einen starken Einfluss (Impact) auf Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. So sind digitale Technologien zu einer wichtigen Quelle für Wettbewerbsvorteile von Unternehmen und den Wohlstand von Staaten geworden.

Der Begriff Transformation beschreibt die grundlegende Veränderung z.B. eines politischen Systems oder des Geschäftsmodells eines Unternehmens. Eng mit diesem Begriff verknüpft ist die Vorstellung des Übergangs (Transition) von einem (Gleichgewichts-)Zustand zu einem anderen. Oft geht dies einher mit einer negativen Bewertung des alten und einer positiven Bewertung des neuen Zustands. Ein Beispiel ist die Unterscheidung zwischen der Old Economy und einer New Economy um die Jahrtausendwende. Eine solche negative Bewertung des alten Zustands führt nicht selten zum Widerstand der betroffenen Akteure und der Entstehung von Blockaden z.B. von Teilen der etablierten Organisation gegenüber neuen Digitaleinheiten.

Interessant ist auch, dass Unternehmen, deren Geschäftsmodell von einer digitalen Disruption bedroht ist, wie z.B. in der Tourismusbranche oder im Handel, häufig nicht mit einer umfassenden Transformation reagieren, sondern mit einer hybriden Strategie, die die Fortsetzung des analogen Geschäfts mit einer schrittweisen Digitalisierung kombiniert. So hat der Lebensmittelhändler Rewe vor knapp sieben Jahren das damalige Start-up Commercetools akquiriert, das Software für den elektronischen Handel entwickelt und heute sehr erfolgreich ist. Rewe-Chef Lionel Souque ist der Meinung, der Tanker Rewe brauche viele kleine Schnellboote. die ungefähr in die gleiche Richtung fahren, denen man aber ansonsten Freiheiten lässt.5 Diese Strategie lässt sich eher als digitale Evolution beschreiben.

 

Lernprozess Innovationsstrategie

 

Als Evolution bezeichnet man allgemein die schrittweise Weiterentwicklung z.B. von biologischen, technischen, wirtschaftlichen oder sozialen Systemen. Evolution ermöglicht eine Bewältigung von Komplexität durch geeignete Rahmenbedingungen und eine stärker selbstorganisierte Zusammenarbeit der Akteure. Im Mittelpunkt stehen gemeinsame ergebnisoffene Lernprozesse ausgehend von Hypothesen, die getestet werden. Eine zentrale Erkenntnis der neueren Komplexitätstheorie ist, dass dieses Erfolgsmuster nicht auf die Evolution von biologischen Systemen beschränkt ist, sondern auch für Organisationen und Volkswirtschaften gilt.8 Dabei ist wichtig, dass ein evolutionärer Ansatz die Verbindungen (Konnektivität) zwischen Systemen, ihren Bausteinen und den relevanten Akteuren (Stakeholdern) fördert.9 Deshalb erscheint das Konzept einer Evolution oder Koevolution besser als ein transformativer Ansatz für die Digitalisierung von politischen und wirtschaftlichen Systemen geeignet.

 

Disruptive Geschäftsmodelle und eine neue Phase der Produktivitätssteigerung

Eine solche digitale Evolution von Unternehmen vollzieht sich gegenwärtig in zwei wichtigen Handlungsfeldern, die miteinander verbunden sind. Der Fokus des ersten Handlungsfeldes, das mit dem Online-Handel (E-Commerce) Mitte der 1990er Jahre begonnen hat, liegt bei der Disruption durch innovative Geschäftsmodelle und dort insbesondere bei den Bausteinen Wertversprechen, Kundenkanäle und Art der Gewinnerzielung.10

Das zweite Handlungsfeld startete als Weiterentwicklung des Business Process Reengineering Ende der 1990er Jahre mit dem Process Mining. Der 2011 geprägte Begriff Industrie 4.0 betonte die Bedeutung von Anwendungen in der Produktion. Aus einer Verknüpfung dieser Ansätze mit der AIoT-Technologie Robotic Process Automation (RPA) hat sich eine neue Phase der Produktivitätssteigerung entwickelt.11 Das Münchner Start-up-Unternehmen Celonis bezeichnet dies als Execution Management System (EMS), SAP spricht von Business Process Intelligence (BPI). Parallel zu dieser Digitalisierung der Prozesse entwickelten sich die Anbieter von Low-Code-Software weiter. So wurde z.B. das israelische Start-up-Unternehmen Monday.com bei seinem Börsengang in den USA mit sieben Milliarden Dollar bewertet.12

 

 

Die Disruption durch innovative Geschäftsmodelle geht vor allem von Start-ups und den großen Tech-Konzernen aus. Da die angegriffenen etablierten Unternehmen Ausmaß und Geschwindigkeit der Disruption schwer einschätzen können, reagieren sie häufig mit dem Aufbau von Corporate Digital Units, die in der Regel einen kulturellen Abstand zur Basisorganisation haben.13 Viele Unternehmen befinden sich gegenwärtig in dieser Phase, Andere wie z.B. Daimler haben sich bereits wieder von einem solchen Ansatz verabschiedet und setzen auf die innovative Weiterentwicklung des Kerngeschäfts.14

 

Die digitale Architektur als Barriere

Eine bedeutende Barriere für die von einer Disruption des eigenen Geschäfts-modelles betroffenen Unternehmen ist ihre digitale Architektur. Häufig existiert keine zentrale Technologie- und Daten-Plattform oder man befindet sich in einer großen Abhängigkeit von Plattform-Partnern, die einen wichtigen Teil der KI-basierten Wertschöpfung übernehmen.15

Die Relevanz dieser Barriere resultiert unter anderem daraus, dass eine weiterentwickelte digitale Architektur das Bindeglied zwischen innovativen Geschäftsmodellen und produktiveren Prozessen bildet.

 

Zunehmende Bedeutung von Business Process Intelligence

Wichtige Impulse für das Process Mining sind von dem niederländischen Professor Wil van der Aalst ausgegangen, der an der RWTH Aachen die Gruppe Process and Data Science leitet.16 In Verbindung mit Robotic Process Automation entstehen in praktisch allen Branchen und auch im öffentlichen Sektor neue Möglichkeiten zur Steigerung der Produktivität von Kernprozessen. Der Co-Geschäftsführer von Celonis, Bastian Nominacher schätzt, dass der adressierbare Markt 60 bis 70 Milliarden Dollar groß ist.17 Wil von der Aalst arbeitet neben seiner Tätigkeit an der RWTH Aachen als Chef-Wissenschaftler für Celonis.18

Nach der Übernahme des Start-ups Signavio sieht SAP den Geschäftsbereich Business Process Intelligence als Kern seines Geschäftsmodells.19 Natürlich wird es bei dieser neuen Phase einer AIoT- getriebenen Produktivitätssteigerung Pioniere und Nachzügler geben. Leider gehören zu den Nachzüglern in Deutschland auch die öffentlichen Verwaltungen, für die das Thema eine große Herausforderung darstellt.

Ein konnnektives Management, das disruptive Geschäftsmodelle und produktivere Prozesse verbindet, entwickelt den seit langem bekannten Ambidextrie-Ansatz weiter, der eine Balance zwischen Exploration und Exploitation anstrebt.20 Die großen Digitalkonzerne setzen dabei auf das Rahmenkonzept einer Plattform-Organisation mit agilen Teams.21

 

Führungskompetenzen bei einer digitalen Evolution

Möglicherweise hat sich der Begriff der digitalen Transformation so lange gehalten, weil er gut zu einem machtdominierten traditionellen Management passt, bei dem die Chefetage strategische Pläne entwickelt, die die „Untergebenen“ dann umsetzen. Diese Vorstellung ist natürlich so heute nicht mehr zeitgemäß. In meiner 1991 erschienenen Habilitation habe ich die notwendig erscheinende Weiterentwicklung des strategischen Managements zu einer evolutionären Führung beschrieben.22 Im Mittelpunkt stehen dabei die Gestaltung eines Ordnungsrahmens für gemeinsame Lernprozesse und das Hinterfragen von Annahmen.

Dreißig Jahre später argumentiert der Organisationspsychologe und Wharton-Professor Adam Grant ähnlich. Er unterscheidet zwischen den Mindsets von Predigern, Politikern, Staatsanwälten und Wissenschaftlern. Der Mindset traditioneller Manager gleiche dem der drei erstgennanten Berufsgruppen. Dabei bestehe aber immer die Gefahr einer Selbstüberschätzung. Der Mindset erfolgreiche Start-ups und Digital-Unternehmer ähnele hingegen eher dem von Wissenschaftlern. Charakteristisch für deren Mindset seien Zyklen des Überdenkens, die durch Demut. Zweifel und Neugier geprägt sind.23

 

Lernprozess Innovationsstrategie

 

Ein solcher Rethinking Cycle anstelle des Overconfidence Cycle bildet die Grundlage für eine erfolgreiche digitale Evolution. Der Overconfidence Cycle kann hingegen leicht zu der irrigen Annahme führen, der Prozess einer digitalen Transformation sei abgeschlossen.

Für Deutschland, das sich ja gerne als Land der Denker, Wissenschaftler und Ingenieure sieht, sind das eigentlich gute Nachrichten. Es wäre allerdings notwendig, bei der Vermittlung von Führungskompetenzen stärker auf evolutionäre Zyklen des Überdenkens und agile Umsetzungsprozesse zu setzen.

 

Fazit

  • Die Digitalisierung verläuft eher nach dem Muster einer digitalen Evolution als dem einer digitalen Transformation
  • Die beiden miteinander verbundenen Handlungsfelder einer digitalen Evolution sind die Disruption durch innovative Geschäftsmodelle und eine Produktivitätssteigerung mit Business Process Intelligence
  • In beiden Handlungsfeldern spielt die Gestaltung eines Ordnungsrahmens für gemeinsame Lernprozesse eine zentrale Rolle
  • Wichtige Führungskompetenzen erfolgreicher Digital-Unternehmer sind die Moderation von Zyklen des Überdenkens von Hypothesen und eine Förderung agiler Umsetzungsprozesse

 

Literatur

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[21] Servatius, H.G.: Die Ressourcen-Plattform mit agilen Teams als neue Organisationsform. In: Competivation Blog, 12.01.2021

[22] Servatius, H.G.: Vom strategischen Management zur evolutionären Führung – Auf dem Wege zu einem ganzheitlichen Denken und Handeln, Stuttgart 1991

[23] Grant, A.: Think Again – The Power of Knowing What You Don’t Know, London 2021, S. 27ff.

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